kulturtipp: Sie seien ein «Svizzero di sangue italiano», hat ein italienischer Kritiker geschrieben, «ein Schweizer mit italienischem Blut». Ich werde schreiben: «Der Schweizer Dirigent». Und für die Franzosen sind Sie «Der Franzose»?
Lorenzo Viotti: Überhaupt nicht! Die Franzosen wissen nicht mal, dass ich einen französischen Pass habe, sie verorten mich wegen meines Namens in Italien. Ich habe in Frankreich auch wenig dirigiert und vielerorts nicht sehr gerne.
Warum denn nicht sehr gerne?
Wenn mir die Atmosphäre nicht gefällt, ist es egal, ob ein Haus berühmt ist, dann muss ich als Dirigent die Konsequenzen ziehen. Es gibt einige Häuser in Frankreich, wo ich nie mehr arbeiten werde.
Täuscht der Eindruck oder sind Sie trotz Ihrer Jugend ein extrem selbstkritischer Dirigent?
Objektiv zu sein, ist etwas Schwieriges, aber es ist das Wichtigste. Wenn ich in einer sehr berühmten Institution arbeite und das Orchester und ich nicht die gleiche Sprache reden, wenn da keine Chemie zwischen mir und dem Management ist, wir zwei keine gemeinsame künstlerische Vision haben, frage ich mich: Wozu machen wir das Ganze? Warum zwei Monate in einer schrecklichen Atmosphäre verbringen? Dafür ist das Leben zu kurz. Ich will in diesem Beruf nicht unglücklich werden.
Bei aller Arbeit: Mit gewissen Orchestern versteht man sich besser, mit gewissen schlechter. Warum?
Es ist wie bei den Menschen, es gibt unglaublich grosse Fragezeichen und die Frage: Warum liebt man? Das ist das Schönste im Leben.
Aber da sitzen 80 Leute vor Ihnen, nicht ein einziger Mensch.
Man muss diese 80 als eine Person nehmen, auch wenn die ersten von den zweiten Violinen völlig unterschiedlich sind.
Und wenn ich behaupte, dass jeweils nur die Hälfte des Orchesters den Dirigenten mag?
Die Musiker müssen nach dem Konzert denken, dass sie besser als drei Tage vorher gespielt haben. Das mit der Liebe ist ein Ideal. Ich kann auch schlafen, wenn mich die Orchestermusiker nicht mögen, es ist allgemein nicht so wichtig, was die Leute über mich denken. Ich habe auch schon gesagt, nachdem es mit einem Orchester nicht funktioniert hat: «Vielleicht geht es in zehn Jahren besser!»
Wie schnell entdecken Sie die technische Qualität eines Orchesters?
Schnell, nach der ersten Probe.
Und dieses Wissen verändert Ihre Arbeit?
Entscheidend ist, was mein Ziel ist. Will ich technisch arbeiten? Oder eher am Klang? Manche Orchester brauchen mehr Fantasie, manche mehr Struktur. Speziell nach Covid: Ich stiess auf Orchester, die in den letzten zwei Jahren unglaublich gelitten haben.
Werden Sie von Orchestern oft überrascht? Anders gefragt: Sind die berühmten Orchester sowieso gut?
Stehe ich vor einem nicht so berühmten Orchester, gilt es zu fragen: Haben die sich damit abgefunden oder kann man ihnen das Gefühl geben, dass sie Champions-League-Niveau erreichen können? Das jedenfalls mag ich! Das ist viel besser als die Top 10, die wissen, wie toll sie sind. Warum sollen sie noch mehr geben? Nur wo ein Hunger ist, wird es spannend.
Die 20 Top-Orchester sind also arrogant?
Ein kleiner Teil schon, ja. Es gibt allerdings vielerorts einen spannenden Generationenwechsel zu beobachten. Doch junge Musiker müssten es vermehrt wagen, Führungspositionen im Orchester zu übernehmen.
Ihre Schwester ist Sängerin, Sie sind Dirigent. Hätte es auch umgekehrt kommen können: Marina Viotti ist Dirigentin, Sie sind Opernsänger?
Ich könnte Sänger sein, meine Schwester aber nie Dirigentin: Sie hat nicht die Disziplin, die eine Dirigentin braucht. Das ist nicht böse gemeint (lächelt).
Bei der Aufführung von «Romeo und Julia» stand sie in Mailand auf der Bühne: Da war der kleine Bruder, Sie, ihr Chef. Geht das gut?
Sehr gut sogar. Wir haben ziemlich oft zusammengearbeitet, ich bin immer so stolz, weil sie auch aus einer total anderen Welt kommt. Sie war Death-Metal-Sängerin, weiss, wie das ist, vor 50 000 Leuten zu singen und ins Publikum zu springen. Jetzt kann sie das nicht mehr machen. Sie ist manchmal mit dem Rhythmus sehr frei – und sie weiss es und weiss, dass ich es weiss.
In Zürich debütieren Sie Ende April mit dem Tonhalle-Orchester: Sie dirigieren ein spezielles Programm …
… es war ein spezielles, aber ich musste ein ganz neues Programm finden, man hat keinen Chor auftreiben können, man hat überall gefragt. Aber ich komme gerne nach Zürich, ich liebe diese Stadt, habe viele Freunde dort.
Ist dieses Debüt eine Annäherung an Zürich, ein Schritt auf die Stadt zu?
Vielleicht. Ich weiss, dass es nicht zu früh wäre, in Zürich eine Position zu belegen: Es ist eine Stadt, wo es viele Möglichkeiten gibt, diese Stadt braucht etwas Neues.
Wie gut kennen Sie die Tonhalle?
Gar nicht – weder Saal noch Orchester, obwohl ich Chefdirigent Paavo Järvi sehr mag. Ich kenne auch das Publikum nicht, aber ich werde zu ihm sprechen, das mache ich immer. Keine Einführung, aber eine spontane Rede.
Konzert
Werke von Korngold, Strauss und Ravel
Mi, 27.4.–Fr, 29.4. Jeweils 19.30 Tonhalle Zürich
DVD
Gaetano Donizetti
Le convenienze ed inconvenienze teatrali
(Opus Arte 2021)
Pietro Mascagni
Cavalleria rusticana
(Naxos 2019)
Steile Karriere
Lorenzo Viotti wurde 1990 in Lausanne geboren. Sein Vater war der berühmte Dirigent Marcello Viotti, seine Mutter die Geigerin Marie-Laure Viotti. Er studierte in Lyon, 2009 ging er nach Wien, wo er die Ausbildung als Dirigent begann. Als Perkussionist spielte er in dieser Zeit in mehreren Orchestern. Sein Debüt als Dirigent hatte Viotti 2013 im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins mit dem Akademischen Symphonie Orchester Wien. Danach ging es steil bergauf, er dirigierte bereits die Berliner Philharmoniker. Seit der Saison 2018/19 ist Viotti Chefdirigent des Orquestra Gulbenkian in Lissabon und Chefdirigent des Netherlands Philharmonic Orchestra und der Dutch National Opera in Amsterdam.