kulturtipp: Warum kennt der Grossteil der Schweizer Opernfreunde nur eine einzige ganze Oper von Jacques Offenbach: «Les contes d’Hoffmann»?
Alexandre Dratwicki: In Frankreich kennt man auch nur ein halbes Dutzend. Wenn man bedenkt, dass es 150 Musiktheater-Titel gibt, ist das sehr wenig. Aber immerhin.
Warum so wenige?! Offenbachs Musik sprüht vor Lebensfreude, seine Melodien sind hinreissend, zwei von ihnen – die Barkarole und den Cancan – kennt jeder.
Das Problem ist die Sprache. «Hoffmann» ist eine ernste «Grande Opera». Da gibt es keinen gesprochenen Text wie in den meisten seiner anderen Werke. In ganz vielen sind die Dialoge ein wichtiger Teil. Und sofort fragt es sich ausserhalb von Frankreich: übersetzen oder nicht? Aber heute strebt alles zu Recht zum Original.
Sie meinen, dass eine Übersetzung keine Hilfe, sondern eine Dekonstruktion ist?
Dank Übertiteln könnten wir die Oper original spielen, in ihrer Sprachmelodie belassen und die Worte dennoch verstehen. Da müssen wir uns nicht fragen, welche Übersetzung – eine historische oder eine aktuelle – wir auf der Bühne spielen lassen.
Die Satire, die Ironie, der Zynismus: Sind die nicht fest im 19. Jahrhundert verankert; können wir es verstehen – und wollen wir es verstehen?
Ich bin mir sicher, dass Offenbachs Libretti zeitlos sind: In diesen Werken herrscht ein Sprachwitz vor, der heute noch genauso aktuell ist wie einst. In der Opéra bouffe «Maître Péronilla», die wir während unseres Festivals aufführen, gibt es eine Stelle, bei der alle denken, dass wir sie aktualisiert hätten: Stimmt aber nicht, sie ist original. Ein moderner Hörer versteht Offenbach sofort mitsamt all den Anspielungen. Wäre es nicht so, würden wir doch auch mit den ernsten Opern Probleme haben, da man auch damals diese Stoffe viel besser kannte.
Er war also nicht zu aktuell, ja zu zeitgeistig, dass er gar nicht mehr verstanden werden kann?
Nein – oder so wie alle Genies. Offenbach war extrem populär, kreativ und sehr innovativ. Aber klar: Berlioz wurde weniger verstanden als Offenbach, Beethoven weniger als Haydn. Dann kehrte der Wind. Aber die einen wie die anderen schufen Werke, welche die Zeit überdauerten. Offenbach komponierte äusserst vergnügliche Werke zum Lachen.
Offenbar ist meine Theorie falsch, dass man Offenbach nicht mehr wegen des Textes, der Stoffe, spielt.
Nicht ganz: Wenn, dann sind die angetönten langen Dialoge das grosse Problem. Das passt nicht in die grossen Opernhäuser: Manchmal haben Sie sogar mehr Dialoge als Musik. Das müssen Sie als Zuschauer erst mal hören wollen – und als Künstler ausführen können.
Ich bin nach wie vor überzeugt, dass eine konsequente Übersetzung helfen würde.
Schauen Sie, man weiss, dass früher die Sänger keine guten Schauspieler waren: Sie waren nicht sehr lustig, wirkten künstlich. Die Dialoge waren trocken. Heute aber sind die Sänger extrem gut ausgebildet, die spielen alle toll! So eine Offenbach-Oper ist für die kein Problem. Ich könnte Ihnen ein paar Dutzend Sänger aufzählen, die sind exzellent im Gesang und im Spiel – ideal für Offenbach. Aber es ist nicht einfach: Für «Maître Péronilla» braucht es 18 Gesangssolisten – und die Hauptrollen singen grosse Arien, ähnlich wie in «Hoffmann». Das ist schwierig.
Hat die Offenbach-Zurückhaltung nicht auch mit der Angst, zu vergnügen, zu tun?
Es ist ein grosses Rätsel, wie nicht nur Offenbach, sondern ein ganzes Genre – die französische Operette – verschwinden konnte. Es gab ja Komponisten, die schrieben noch viel mehr als er, Hervé zum Beispiel. Stellen Sie sich vor: Es gibt mehr französische Operetten als französische Opern – alle sind sie verschwunden! Aber Sie haben schon recht, die grossen Dirigenten hatten den Hang zum Ernsten, gaben sich sogar vom Auftreten her so. Man wollte nicht mit der Unterhaltung in Verbindung gebracht werden. Aber ich glaube, die Sache ändert sich wieder: Ist es, weil es den Menschen und der Welt ökonomisch oder gesellschaftlich schlechter geht? Die Leute haben jedenfalls eine Sehnsucht nach Unterhaltung. Die Operette war schon damals eine Antwort auf das europäische Übel – und ist es nun wieder.
In Zürich dirigierten einst Barockspezialisten Opern von Offenbach. Brauchen diese Werke Spezialisten?
Nein, überhaupt nicht. Diese Opern verlangen vor allem Präzision. Die kann ein Universalist, der Bach und Bartók dirigiert, bestens hinkriegen. Die Spezialisten reinigten die Barockmusik, aber das braucht Offenbach nicht, er braucht eigentlich nur die richtigen Tempi: Wer Offenbach dirigiert, muss ein extremes Rhythmusgespür haben. Alles beruht bei ihm auf dem Tanz. Diese Tänze muss ein Dirigent kennen. Es braucht einen Anspruch und Enthusiasmus. Das finden sie bei Dirigenten der historischen Aufführungspraxis häufiger …
Glauben Sie, dass Offenbachs Zeit wiederkommt?
Absolut! Nicht nur er, die Operette boomt, man spielt sie wieder. Und somit auch Offenbach. Auch Hervé gilt es wiederzuentdecken. Der hat ja noch mehr als Offenbach geschrieben.
Offenbach im Jubiläumsjahr
Konzerte
Offenbach: Die Grossherzogin von Gérolstein
Mo, 10.6., 17.00
Mi, 12.6., 19.30
Luzerner Theater
Happy Birthday Jacques Offenbach: Soiree Classique
Raphaela Gromes (Cello)
Di, 18.6., 20.00 Kaufleuten Zürich
Festival Palazzetto Bru Zane
Bis So, 30.6., Paris
https://parisfestival.bru-zane.com
Radio
«Oyayaye ou La Reine des Îles»
Opernaufführung aus Köln
So, 16.6., 22.25 BR-Klassik
Hommage zum 200. Geburtstag
Offenbach in der Sendung
«Musikstunde»
Mo, 17.6., 09.05 SWR 2
«Orpheus in der Unterwelt» an den Salzburger Festspielen 2019
Gespräch mit Regisseur
Barrie Kosky
Do, 20.6., 19.05 BR-Klassik
«La Grande-Duchesse de Gérolstein»
Operette (Aufnahme von 1996)
Do, 20.6., 20.05 BR-Klassik
CDs
La Périchole
2 CDs
(Bru Zane 2019)
Colorature
Jodie Devos
(Alpha Classics 2018)