«Chiaroscuro» – ein Name, der passt wie wenig andere. Hell und dunkel, Licht und Schatten, Lebensfreude, aber auch die dunklen Seiten des Daseins schwingen darin mit. Man kennt den Begriff aus der Kunstgeschichte, als die Maler des Barock mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten die Räumlichkeit und Dramatik ihrer Bilder steigerten.
Das 2005 in London gegründete Chiaroscuro Quartet entschied sich, mit historischen Instrumenten, Bögen und Spieltechniken in das klassische Repertoire einzutauchen. Das Gegensätzliche machten sie zur Maxime ihrer kontrastreichen Interpretationen: grell und scharf gegen alle Schattierungen des Leisen; Vibrato, nur um etwas Besonderes hervorzuheben. Der klare, gerade Ton in absolut lupenreiner Intonation, verbunden mit detaillierter musikalischer Rhetorik, ist denn auch zum Markenzeichen des Quartetts geworden.
Tief im Herzen mit ihrer Heimat verbunden
Nicht nur im Quartett hat Alina Ibragimova ein offenes Ohr für das Verschattete, Abgründige – auch wenn die Musik auf den ersten Blick sehr heiter erscheint. Um die Bandbreite des Ausdrucks geht es ihr: «Musik darf manchmal auch hässlich oder sogar böse sein. Das steckt ja auch in uns drin.» Es hat etwas Lakonisches, aber sehr Überlegtes, wenn sie solche Sätze sagt. Und so spielt sie auch: Egal ob im Quartett, als Solistin vor dem grossen Orchester oder im Duo mit ihren Klavierpartnern Cédric Tiberghien oder Kristian Bezuidenhout: Man spürt, dass sie nachgedacht hat über das, was sie spielt, und über das, was sie damit sagen will.
Zwar liebt sie die harten Kontraste, aber alles Demonstrative scheint sie vermeiden zu wollen. Es hat manchmal geradezu etwas Unterkühltes, wenn sie konturlos-fahle Töne einstreut, die dadurch nur noch unheimlicher und bedrohlicher wirken. Neben der Tiefe und dem hintergründig Doppelbödigen aber gibt es eine oft ebenso unvermutet aufscheinende Schönheit in ihrem Spiel. «Natürlich liebe ich die Schönheit», sagt sie, «aber ich liebe sie im Kontrast zu allem anderen. Ich suche nach den starken Gefühlen, weniger nach den schönen. Wenn wir uns nur um die schönen Seiten kümmern würden, wäre das sehr unfair dem Hässlichen gegenüber.»
Alina Ibragimova kam 1985 in Polewskoi zur Welt, fern von Moskau im mittleren Ural, als Tochter eines Kontrabassisten und einer Geigerin. Mit vier begann sie mit der Violine, mit sechs trat sie schon auf, etwa mit dem Orchester des Bolschoi-Theaters. Mit zehn zog sie mit ihrer Familie nach London, wo sie an der Yehudi Menuhin School und am Royal College of Music weiterstudierte. Sie hatte keine Mühe, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, die Liebe zu ihrer Heimat aber ist geblieben: «Ich denke ständig an Russland, an das Essen vor allem, an die Menschen, an kleine Dinge, die ich als Kind erlebte.»
Explosion geigerischer Ausdruckskraft
2005 war das Schicksalsjahr von Alina Ibragimova: Sie fand ihre Geige, eine Bellosio, die lange noch für eine Guarneri gehalten wurde, sie gründete ihr Quartett, und sie traf Cédric Tiberghien. Mit dem französischen Pianisten verbindet sie seither eine tiefe Seelenverwandtschaft. Zusammen haben sie auch auf CD starke Pflöcke eingeschlagen, mit Szymanowski zuerst, dann in den Sonaten von Beethoven, und schliesslich widmeten sie sich mit grossem Erfolg den Sonaten von Mozart, die sie vollständig einspielten. Im Corona-Jahr hat Alina Ibragimova die Capricen für Sologeige von Paganini eingespielt. Eine Explosion von geigerischer Ausdruckskraft: fahle Klänge von lakonischer Unverbindlichkeit, hingehauchte Seufzer, schneidende Schärfen, die wie Nadeln stechen – und technische Souveränität sowieso.
Versiert in allen musikalischen Bereichen
In eine Schublade stecken lässt sich diese 35-jährige Geigerin mit tatarischen Wurzeln nicht. Sie ist genauso versiert auf Darmsaiten in barocken Gefilden wie in den grossen Violinkonzerten des 19. und 20. Jahrhunderts. Und auch ganz neue Musik gehört für sie ganz selbstverständlich zum Künstlerleben: Sie spielt Uraufführungen und vergibt Kompositionsaufträge.
Mit ihrem Quartett ist sie bislang vor allem mit klassischen Werken hervorgetreten. Auch in Zermatt stehen Haydns D-Dur-Quartett Opus 33 Nr. 6 und das «Harfenquartett» von Beethoven auf dem Programm, beides eher positiv gestimmte Werke. Aber Vorsicht: Hier spielt das Chiaroscuro Quartet – ganz sicher finden sich auch hier dunkle Schatten und versteckte Abgründe.
Konzert
Chiaroscuro Quartet
Haydn: Quartett op. 33 Nr. 6
Beethoven: Quartett op. 74
Do, 9.9., 18.30
Heinz Julen Loft Zermatt VS
CD
Alina Ibragimova
Paganini:
24 Caprices op. 1
(Hyperion 2021)
Chiaroscuro Quartet
Haydn: Quartette op. 76, Nr. 1–3
(BIS 2020)
Die Berge im Blick
Falls Sie in der Umgebung von Zermatt wandern, kann es sein, dass Sie einer Gruppe von Menschen begegnen, die statt mit Rucksäcken mit Instrumentenkoffern den Berg hochkeuchen. Am 16. und 17. September ist die Monte-Rosa-Hütte Etappenziel der Gruppe Tournée des Réfuges, die akustische Musik aller Stilrichtungen in die Berghütten des Wallis bringt. Nicht ganz so hoch, aber auf immerhin 2222 Metern liegt die kleine Kapelle auf der Riffelalp, in der etwa der Pianist Kit Armstrong oder die Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller auftreten. Und noch ein Berg-Thema bietet das Zermatt Festival: Gezeigt wird der erste Film, für den eine Kamera auf über 4000 Meter hinaufgeschleppt wurde. Vor 100 Jahren drehte der Bergfilm-Pionier Arnold Fanck die Besteigung des Lyskamms neben dem Matterhorn. Und er gewann Paul Hindemith für die Filmmusik zu den abenteuerlichen Bildern von kleinen Menschen auf gefährlichen Gletschern, die in Zermatt live zum Film gespielt wird.
Für die grösser besetzten Konzerte insbesondere mit dem festivaleigenen Orchester ist die Zermatter Pfarrkirche der Ort der Wahl. Kit Armstrong und der Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, Noah Bendix-Balgley, haben ebenso ihre Auftritte wie der Geiger Wolfram Brandl und der Cellist Claudio Bohórquez. Sie gehören zum Scharoun-Ensemble der Berliner Philharmoniker, das seit vielen Jahren in Zermatt das Residenz-Ensemble bildet und das in ganz verschiedenen Formationen und in vielseitigen Repertoires zu hören ist. Die Studenten der Academy zeigen zudem laufend, was sie zusammen mit diesen erfahrenen Musikern erarbeitet haben.
Zermatt Music Festival
Mi, 8.9.–So, 19.9.
www.zermattfestival.com