Tektonische Platten rumpeln, Lava fliesst, Urkräfte donnern, Gletscher knirschen. Musikkritiker renommierter Zeitungen sind sich einig: Was Anna Thorvaldsdottir komponiert, ist gross. Ihre Orchesterwerke klingen, als würde gerade die Welt erschaffen.
«Ich denke nicht an tektonische Platten, wenn ich Musik schreibe», sagt Anna Thorvaldsdottir im Zoom-Interview. Sie schaltete sich aus der Nähe von London zu, dort lebt und arbeitet die Isländerin seit einigen Jahren.
Jedes Orchester hat seinen Fingerabdruck
Wenn sie komponiert, denkt sie an nichts als Musik. An Texturen, Klänge. Und wie alles zusammenfliesst. Was sie unbewusst aus der Natur inspiriere, seien die Kontraste und der Fluss an Energie. Diesen Fluss spürt man in ihren Orchesterwerken.
Wenn sich die Streichinstrumente in verschiedensten Formen und Lautstärken durch die Stücke ziehen, als würden sie einem Ziel entgegenfliessen. Erst schaurig schleichend, bald im Tremolo, um sich dann monumental über den Rest des Orchesters zu wölben, bevor sie sich beinahe wieder auflösen.
Anna Thorvaldsdottir erzählt ruhig. Begeistert, aber zurückhaltend. In kurzer Zeit ist viel gesagt, ohne zu viele Worte. Sie spricht, wie sie ihre Orchesterpartituren schreibt: präzise. Aktuell arbeitet sie als «Creative Chair» intensiv mit dem Tonhalle-Orchester in Zürich. «Es ist wunderbar. Es entsteht ein gegenseitiges Gespür füreinander.» Der Weg von den Noten bis zur gespielten Musik verkürze sich, wenn sie sich als Komponistin direkt mit dem Orchester austauschen und ihre eigenen Werke erarbeiten könne.
Berliner Philharmoniker, The New York Philharmonic, London’s Philharmonia Orchestra – die Liste von weltweit führenden Orchestern, die Anna Thorvaldsdottirs Werke spielen, liesse sich leicht fortsetzen. Sie hätte sich daran gewöhnen können, dass ihre Kompositionen zum Teil beinahe täglich in prestigeträchtigen Konzerthallen ausgeführt werden. Doch sie spricht von Magie, wenn Musikerinnen und Musiker diese live spielen. Jedes Orchester habe seinen eigenen Fingerabdruck, jede Aufführung, auch desselben Orchesters, klinge anders.
Schon als Kind eigene Lieder ausgedacht
Die Aufführung, an der sie erstmals ihre eigenen Werke spielte, in einer Kirche in Reykjavik, nimmt einen wichtigen Platz in ihren Erinnerungen ein. «Die Stücke waren ehrlich», sagt sie über die Streichquartette – einfacher komponiert als ihre heutigen Werke. Dennoch hört Anna Thorvaldsdottir in ihnen den Kern ihrer eigenen musikalischen Stimme.
Bis heute schöpft sie diese aus sich selbst. Über die Kunst anderer sagt sie, dass diese zwar schön sei, für sie aber nie der Ausgangspunkt. «Der Ausgangspunkt liegt in meinem Inneren.» Plötzlich sei da eine Orchestrierung, mit der Zeit eine Struktur, ein Ziel. «Wenn ich arbeite, geschieht das alles in meinem Kopf.»
Thorvaldsdottir komponiert, ohne dafür Instrumente zu benutzen. Diese hört sie innerlich, so wie das ganze Stück, das sie in Echtzeit immer wieder in ihrem inneren Ohr abspielt. Präsent sein. Offen sein. Offen dafür, was das Stück werden wolle. Und nach und nach entfalte sich dieses.
Aber ist das nicht zu einfach, leidet man nicht auch, wenn man Klangwelten solchen Ausmasses erschafft? «Doch, absolut», je nach Stück sei der Prozess verschieden. In jedem Fall aber viel Arbeit. Eine Menge vor und zurück, löschen, wieder reinnehmen, «zu lang?», «zu kurz?».
Anna Thorvaldsdottir hat sich bereits als Kind Lieder ausgedacht. Als Jugendliche studierte sie Cello, erst später, als sie bereits mehrere eigene Stücke komponiert hatte, studierte sie auch Komposition, erst in Island, dann in den USA. «Es fühlte sich nicht an wie eine Entscheidung: Jetzt werde ich Komponistin.» Eher war es eine Gewissheit: Ohne kann sie nicht leben.
Bevor sie das, was sie im Kopf hört, in Noten übersetzt, zeichnet sie Wellen, Linien, Ellipsen auf grosse weisse Blätter. Die Skizzen sind Kunstwerke für sich, obwohl Anna Thorvaldsdottir selbst findet, sie könne nicht zeichnen. «Bloss eine Notwendigkeit», sagt sie, um ihre Ideen festzuhalten. Später sieht sie sich die Zeichnungen an, hört wie sie klingen, und erinnert sich dabei an Atmosphären und Harmonien. Auch wenn der Prozess plausibel klingt, scheint es noch immer, als wäre der Kopf eines Menschen schlicht zu klein dafür, um all die riesigen Klänge zu fassen.
«Ich glaube nicht, dass Island so klingt»
«Aber der Geist ist gross», sagt sie. So gross, weil ihre Heimatinsel einem Raum dafür gibt? Hat sie die gewaltige Umgebung geprägt als Komponistin? Klingt so Island? «Ich versuche nie, Landschaften durch meine Musik zu beschreiben.»
Gleichzeitig spricht sie über die Weite und die unberührte Natur, in der sie aufgewachsen ist. Vielleicht habe das unbewusst Spuren in ihr hinterlassen. Dass andere in ihren Werken Island hören, findet sie, wie auch die Assoziationen der Musikkritiker, wunderbar. Musik lasse einen etwas in sich selbst finden. Was man fühle, sei richtig.
Anna Thorvaldsdottir hat für ihre Musik diverse Preise erhalten, ihr letztes Album «Archora/Aion» (2023) zählte in der «New York Times» und im «Boston Globe» zu den Top-Veröffentlichungen des Jahres. Sie ist eine der bedeutendsten Komponistinnen zeitgenössischer klassischer Musik.
Wie war und ist der Weg dahin als Frau, in einem von Männern dominierten Feld? «Wenn ich komponiere, denke ich nicht daran, dass ich eine Frau bin.» Und doch lebt sie in einer Welt, in der Gleichstellung vielerorts fehlt.
Immerhin: Heute gibt es mehr weibliche Komponistinnen, als zu der Zeit, als sie jung war. Ein Fortschritt. Nun liege es an jenen, die sichtbar seien, Vorbilder zu sein, «übrigens nicht nur für Mädchen und junge Frauen, auch für Männer, für alle.»
Und sie selbst, hat sie alles erreicht, an der Weltspitze ihrer Disziplin stehend? «Oh, es gibt so viel mehr Musik in mir.» Ihr Strahlen steckt an. So, wie einen ihre Musik einnimmt, die aus dem Innersten kommt und das Innerste zu treffen scheint.
Konzerte
Sonic Matter
Fr, 29.11., 19.30
Grosse Tonhalle Zürich
Classic Meets Art
Di, 3.12., 19.00
Hauser & Wirth Zürich
Kammermusik-Lunchkonzert
Do, 19.12., 12.15
Grosse Tonhalle Zürich
Jeweils mit Werken von Anna Thorvaldsdottir und anderen
Komponisten