Dem immer höflichen Martin Engstroem war die Verzweiflung vor zwei Wochen anzuhören. Der Intendant des Verbier Festivals, neben Gstaad und Luzern eines der grossen drei Klassikfestivals in der Schweiz, hatte eben den Sommeranlass (17.7.–2.8.) abgesagt und haderte mit dem Schicksal: «Den Musikern geht es beschissen, in der gesamten klassischen Musikwelt ist die Lage dramatisch. Jetzt kämpft jeder für sich. Es ist brutal.» Verbier war das erste Sommerfestival, das abgesagt wurde. Der Riese Bayreuther Festspiele folgte. Danach kam nichts mehr, auch wenn alle anderen am Zittern und Bangen sind. Wer Oper spielt, braucht auch eine lange Vorbereitungszeit, wer «nur» Konzerte bietet, kann noch etwas warten. Man wartet, bis der Bund sagt: «Ihr dürft nicht.»
Am radikalsten ist Andermatt Music: Alle Konzerte bis Ende 2020 sind abgesagt. Doch die Festivals agieren nicht unabhängig, sind in eine perfekt organisierte Tournee-Maschinerie eingebunden. Wenn nun einzelne Festivals herausfallen, müsste es normalerweise so sein, dass ein Orchester seine Tournee absagen muss. Doch am aktuellen Informationsstillstand sind auch noch ungelöste rechtliche Probleme schuld: Niemand weiss ganz genau, was wer bezahlen muss. Klar ist immerhin die Gagensituation.
Falls ein staatliches Verbot für Veranstaltungen vorliegt, greift «Force Majeure»: Dann müssen normalerweise keine Saläre an Orchester und Solisten bezahlt werden, ausser man hat einen Sondervertrag, etwa mit einem langjährigen Artist in Residence. «Wenn kein Verbot vorliegt, wird es kompliziert, da die Künstler rein theoretisch auf den Vertrag pochen könnten; nur tut dies in der aktuellen Lage kaum jemand, weil alle die Situation verstehen», sagt Christoph Müller vom Menuhin Festival Gstaad (17.7.– 6.9.).
Viele hoffen auf die Solidarität des Publikums
Die laufenden Kosten der Veranstalter nehmen täglich zu. Einnahmen wird es vielleicht keine geben. Interessanterweise müssten die Veranstalter die Karten meistens nicht zurückerstatten. Aber in der Klassikszene werden es alle machen, die Festivalfamilien sind im Prinzip klein, keiner will es sich mit den Mitgliedern verscherzen. Teilweise wird es Angebote geben, das Geld in Gutscheine fürs nächste Jahr umzutauschen. Und viele Festivals hoffen auch, dass die Karten gespendet werden, zumal die Solidarität im Publikum zurzeit gross ist.
Die Kartenverluste sind ein Teil, der geleistete Aufwand der andere. Das Verbier Festival hat viele Kosten, die nicht direkt mit den Konzerten zu tun haben. Allein der Aufbau des Konzert-zelts kostet eine Million Franken. Auch für die 300 jungen Musiker und Musikerinnen aus aller Welt wendet das Festival mehr als drei Millionen Franken auf. «Wir denken mit der Absage an die Zukunft, wir können es uns nicht leisten, das Geld jetzt wegzuschmeissen», so Martin Engstroem. Sein Gstaader Intendanten-Kollege Christoph Müller sagt hingegen: «Wir analysieren laufend die Lage und werden die neuen behördlichen Weisungen abwarten, ehe wir über eine Veränderung des Programmangebots 2020 entscheiden. Selbstverständlich werden wir keine Risiken eingehen, was die Gesundheit unseres Publikums, der Musikerinnen und Musiker und des Teams angeht. Ich glaube, dass wir im Vergleich zu Verbier etwas kurzfristiger über Absage oder Durchführung entscheiden können, da im Bereich der Infrastruktur-Planung und der Orchesteradministration mit kürzeren Fristen gearbeitet werden kann.» Aber die Lage bleibt sehr angespannt, mit der Durchführung des Festivals hängt wohl auch zusammen, ob gewisse Hotels überhaupt aufmachen. Alles liegt in der Hand der Politiker.
Trotz allem: Auch beim Davos Festival (31.7.–15.8.) und beim Lucerne Festival (14.8.–13.9.) war man vor kurzem noch optimistisch, hat den Vorverkauf gestartet. Der Beginn lief in Luzern nach Aussagen von Michael Haefliger überraschend gut. Doch findet das Festival überhaupt statt? In der «Luzerner Zeitung» sagte der Intendant Ende März, dass spätestens Mitte Juni über die Durchführung entschieden werde.
Abhängig von den Weisungen des Bundes
Auch das Musikdorf Ernen (3.7.– 30.8.) wartet noch ab, Intendant Francesco Walter sagt: «Ich gehe davon aus, dass das Festival stattfindet.» Zurzeit verschickt man vorsichtshalbe aber keine Konzertkarten, kaufen kann man sie sehr wohl, abgezogen wird das Geld, wenn sie in die Post gehen. Eine Möglichkeit wäre auch, den ersten Teil des Festivals – die Reihe «Klavier Kompakt» Anfang Juli – wegzulassen. Alles steht und fällt mit den Weisungen des Bundes: «Wir sind es den Musikern schuldig. Und auch die Solidarität im Publikum ist gross.» Wie in Verbier: Eine Absage verkraftet das Festival, Ernen würde das Programm mehr oder weniger eins zu eins in einem Jahr geben. Das ist das Glück des Festivals, das ohne Stars auskommt. Fast … Ausgerechnet 2020 hätte erstmals der grosse András Schiff in Ernen gespielt.
Statt 1800 nur 900 Personen im KKL?
Für Verbier-Chef Martin Engstroem ist das Warten Zeitverschwendung. «Ich habe 15 permanente Angestellte: Wenn ich jetzt Kurzarbeit beantrage, kann ich Geld sparen. Meiner Meinung nach hat kein einziges Sommerfestival eine Chance. Sollte die Schweiz ‹sauber› sein, schön und gut, aber nach Verbier kommen ein internationales Publikum sowie 300 junge Musiker aus der ganzen Welt: Sollen sie zwei Wochen vor dem Probenbeginn in Quarantäne? Und auch wenn der Bund das Okay gibt: Wer wird sich in einen Raum mit 1500 Leuten setzen? Ich nicht. Wie können die anderen, Gstaad oder Luzern, das ignorieren?»
Engstroem zweifelt zu Recht, zumal es sich bei den Klassik-Festivalfreunden zu einem Gross-teil um die Risikogruppe 65plus handelt: Ein Konzert vor Leuten mit Gesichtsmasken und im Social-Distancing-Modus? Statt 1800 nur 900 im KKL? Alles schlecht vorstellbar. Christoph Müller gibt Martin Engstroem dennoch eine Antwort: «Ich denke, dass der Hunger nach Konzerterlebnissen grösser sein wird, aber das ist meine persönliche Einschätzung – oder vielleicht eine idealisierte Hoffnung?»