Die Ankündigung aus Interlaken liest sich so einfach wie eine Naturbeschreibung von Gottfried Keller. Kaum fertig gelesen, wird man blass vor Schreck, erschaudert vor dem Abgrund, der sich hinter den netten Worten versteckt. Im Falle der Worte aus Interlaken erschrickt man vor der Herausforderung, der sich eine junge Künstlerin stellen will, lautet die Meldung doch folgendermassen: «Am 30. Juli 1961 eröffnete die weltberühmte Schweizer Sopranistin Lisa Della Casa die 1. Mozart-Wochen in Interlaken – die Geburtsstunde der heutigen Interlaken Classics. Am 4. April 2020 wiederholen wir das Originalprogramm mit der jungen russischen Sängerin Oksana Sekerina.»
Naturgemäss sagt Sekerina, dass dieses Konzert sowohl eine grosse Ehre als auch eine grosse Verantwortung sei, fügt dann aber an: «Ich denke, man sollte keine Angst haben, sondern sich freuen, wenn man auf die Bühne geht, besonders wenn es zu Ehren einer Künstlerin wie Lisa Della Casa ist.»
Verwegen? Diese Lisa Della Casa war immerhin nichts weniger und nichts mehr als die grösste Sängerin, welche die Schweiz je hervorgebracht hat. Wenn heute alles von Anna Netrebko spricht und schwärmt, kann aus Schweizer Mund gelassen gesagt werden: «Unsere Anna, die heisst Lisa.» Der Schriftsteller Jean Cocteau nannte sie gar eine Poetin auf der Bühne. Natürlich sind Sängermythen dazu da, hinterfragt zu werden. Beweihräucherung und Verklärung, selbst wenn sie aus Dichtermund kommen, langweilen die Nachgeborenen. Über Della Casas Gesang kann man sich aber gut auch heute noch Gedanken machen.
Die Stimme von Lisa Della Casa im Ohr
Dieser reine, klar geführte Ton, diese ruhige und korrekte Gestaltung, die stille, silberne Schönheit ihrer Silben wirken auf junge Ohren vielleicht veraltet. Nur bezaubernd schön zu singen, geht heute kaum mehr. Aber könnten es die Sängerinnen überhaupt noch? Stiehlt sich eine der berühmtesten von ihnen, Cecilia Bartoli, nicht mit aussermusikalischen Mitteln durch die Partituren?
Oksana Sekerina ist gewappnet für den Gang nach Interlaken, hat den Gesang von Lisa Della Casa im Ohr und mag ihre Herangehensweise an Mozart sehr. «Ich habe da manchmal ein Gefühl von mathematischer Genauigkeit, und doch schaffte es Lisa Della Casa, einen weichen Klang zu erzielen. Sie hatte eine enorme Kontrolle über ihren Atem, dank dem sie es schaffte, diese unglaubliche Gleichmässigkeit im Klang zu erreichen. Della Casa achtete auf jedes Wort: Aus diesem Gesang spricht Intelligenz und Geschmack.» Und dank diesen Eigenschaften war auch ihr schauspielerischer Ausdruck fantastisch. Besonders erwähnenswert findet Sekerina ihre Interpretation von Mozarts Donna Elvira, der Heroin aus «Don Giovanni»: «Da ist sie emotional und ungestüm.»
Neben einer Arie aus «Le nozze di Figaro» und einer aus «Così fan tutte» wird Sekerina auch eine Arie dieser Elvira in Interlaken singen. Oder singen müssen? Denn mit der Interlaker Prämisse, nennen wir sie ernste Spielerei, muss sie nun jede Arie, jede Phrase und jede Silbe im Wettkampf mit Della Casa singen.
Was der grundlegende Unterschied zum Singen von Mozart von damals bis heute sei, kann die Sopranistin nicht eindeutig beantworten. Sie glaubt, dass die Anforderungen an die Aufführung der Werke von Mozart von Jahr zu Jahr steigen. Mitte des 20. Jahrhunderts sei der Einfluss der Belcanto-Schule ziemlich stark gewesen, und viele Sänger hätten Händel und Mozart mit einer Prise Belcanto gesungen. «Aber mich überrascht, dass Lisa Della Casa nach heutigen Massstäben sehr frisch klingt. Wenn sie jetzt singen würde, wäre ihr Erfolg trotz der wachsenden Anforderungen an die Leistung garantiert. Sie klingt modern!» Und doch gilt es nachzufragen, was denn passieren würde, wenn jemand bei einem gegenwärtigen Wettbewerb wie Lisa Della Casa singen würde. Oksana Sekerina windet sich, das sei sehr kompliziert zu beantworten, und doch glaubt sie, dass die Schweizerin wieder Geschichte schreiben würde.
«Lisa Della Casa ist ein Blickfang, ihre Interpretationen wollen immer und immer wieder gehört werden. Und Gesangswettbewerbe sind nur ein Mittel, um ihre Bekanntheit zu steigern. Aber wenn wir über Mozart-Interpretinnen sprechen wollen, denke ich, dass sie siegen würde.»
Herausforderungen warten noch viele
Wer weiss. Man kann Lisa Della Casas Ansatz jedenfalls nicht nur «zu schön», sondern auch zu kühl finden. Mensch und Stimme schienen sich nicht unähnlich. Ihr Mann soll einmal gesagt haben, dass Salome die erste Rolle war, an die sie wirklich mit Emotionen heranging. Aber wer Della Casa in anderen Rollen von Richard Strauss hört – etwa in ihrer Paraderolle Arabella oder im «Rosenkavalier» – wird sich staunend fragen: Wer könnte das heute so singen?
Und dann steht da auch noch monumental in jeder Sammlung ihre Aufnahme von Richard Strauss’ «Vier letzten Liedern» mit Karl Böhm. Eine Decca-Aufnahme, ohne die man nicht leben möchte. Auf Oksana Sekerina warten noch viele Herausforderungen.
Konzert
1. Sinfoniekonzert – Zakhar Bron Festival Orchestra
Sa, 4.4., 19.30 Kursaal Interlaken BE
Werke von Mozart mit Zakhar Bron Festival Orchestra
Leitung: Zakhar Bron
Solistin: Oksana Sekerina
Vielfältiges Klassikprogramm
Nebst dem 1. Sinfoniekonzert mit Oksana Sekerina bietet Interlaken Classics Kammer- und Kinderkonzerte sowie Meisterkurse an. Geiger Zakhar Bron wird ebenso auftreten wie Meistercellist David Geringas. Und es wird dem Jahresjubilar Beethoven gehuldigt: Im Rahmen der Sinfoniekonzerte wird Lang Lang sein 2. Klavierkonzert spielen und die 13-jährige Geigerin Leia Zhu das Violinkonzert. Der «Prix du Piano» in Bern wurde aufgrund der Massnahmen gegen das Coronavirus abgesagt. (bez)
Interlaken Classics
So, 22.3.–Mo, 13.4.
www.interlaken-classics.ch