Es war in Lockdown-Woche
3. Lagerkoller machte sich breit. Alles begann zu jammern und zu begreifen: Das wird noch ewig dauern. Genau in diesem Moment läutete das Telefon, am Ende der Leitung erzählte Hiromi Gut euphorisch von Guerillaclassics, als gäbe es keinen Virus in der Welt: Gut leitet einen Verein von jungen Menschen und Musikern, die daran herumstudieren, in welche Richtung sich die klassische Musik im 21. Jahrhundert entwickeln könnte. Sie fragen sich: Wie möchte eine neue Generation von Klassik-Fans Musik erleben? Welche Möglichkeiten gibt es, mit Klassik auch Menschen zu erreichen, die es normalerweise vorziehen, Rock- und Pop-Open-Airs anstatt Konzerthäuser zu besuchen?
Der Apfelbaum wird zur Kulisse
Guerillaclassics setzt bereits seit 2017 auf inspirierende und spontane Konzerterlebnisse an aussergewöhnlichen Orten. Ein stetig wachsender Pool von professionellen Musikern und Musikerinnen bildet die Grundpfeiler des Projekts. Und nur logisch, war Hiromi Gut besorgt, als plötzlich nichts mehr ging, nichts mehr gehen durfte. Aber wer schon ein Perkussionskonzert auf einem Floss im See organisiert hat oder einen performativen Streichquartettabend im Dunkeln, der weiss auch zu Zeiten eines Lockdowns Rat. Und so brauchte es dann bloss noch einen Rückruf, zwei Nachfragen auf Whatsapp, und drei Stunden später verwandelte sich in einer Zürcher Quartierstrasse der Raum zwischen Haus 5 und Haus 7 in ein Theater: Die Balkone wurden zu Logen, die Strasse zum Parkett, der Apfelbaum zur Kulisse, der Parkplatz zur Bühne. Die Hausbewohner waren vorgewarnt: «Heute 18 Uhr, seid auf dem Balkon, es gibt eine Überraschung!»
Als Dank ein Chianti via Flaschenpost
Als wäre man im Foyer des KKL, gab es schon Minuten vorher Getuschel, Lachen und Gläserklirren zu hören. Als sich die fast schon vergessenen Laute mit den murrenden Klängen des zu stimmenden Cellos mischten, da wusste jeder: Es gibt bald ein Konzert!
Cellistin Hyazintha Andrej hatte noch keine acht Takte gespielt, da gingen gegenüber die Fenster auf – selbst im 3. Stock, wo man noch nie Bewohner gesehen hatte. Einer Passantin wurde flugs ein Stuhl aufs Trottoir gestellt. Nach der einen Bach-Suite war der Jubel gross und die Herzen so heilsam aufgewärmt, dass die an kaltem Kulturentzug leidende Meute am liebsten die Balkongitter niedergerissen hätte und sich um den Hals gefallen wäre. Hätte die Musikerin nun die hohle Hand ausgestreckt, wären die Banknoten nur so von den Balkonen hinuntergesegelt. Vom 2. Stock wurde via Flaschenpost immerhin ein Chianti gereicht.
Doch keine Angst, bezahlt wird durchaus, ab 100 Franken ist der Musikfreund mit dabei, Guerillaclassics bringt den Rest auf. «Soulfood Delivery» (Seelennahrung-Lieferdienst) nennt sich der Service, den Guerillaclassics bietet – geliefert wird in den Garten, vor den Balkon oder in den Innenhof. Die Musikneudenker wollen mit dieser Aktion und anderen zeigen, wie sich die klassische Musik im 21. Jahrhundert entwickelt. Mit «Soulfood Delivery» spielt Guerillaclassics den hochsubventionierten Kulturinstitutionen vor, wie sie landauf, landab seelenwärmend präsent sein könnten, anstatt uns mit kalten Archivaufnahmen online abzuspeisen.
Mobile Konzerte vor der Haustüre
Doch zum Glück ist Guerillaclassics nicht allein: Auch die Formation La Serenata hat mobile Konzerte im Angebot und bringt die Musik vor die Haustüre. Und viele weitere Angebote kommen, verschwinden wieder, vieles geschieht spontan. Hier spielt ein Quintett vor Seniorenheimen oder Spitälern, da setzen sich Komponisten zusammen und schreiben ein Werk.
Auftritte auf Bestellung für ausgewählte Kunden
Da wollen auch wachere subventionierte Orchester nicht zurückstehen. So kommen Bewohner der Zürcher Alterszentren in den Genuss klassischer Klänge, wenn Musikerinnen und Musiker des Tonhalle-Orchesters in ihrer «freie Zeit» in kleinen Formationen für sie spielen. In Luzern sorgen derweil Mitglieder vom Opernensemble des Luzerner Theaters mit «Hofkonzerten» in Innenhöfen der Stadt für musikalische Unterhaltung.
Ein neues Mini-Konzertformat bietet das Musikkollegium Winterthur gewissen Abonnenten und Gönnern unter dem Titel «Musik vor Ihrer Tür» an. Kleine Kammermusikformationen geben auf Bestellung ein 20-minütiges Konzert vor dem Wohnhaus. Dieses kann aus sicherer Entfernung vom Balkon oder vom Fenster aus genossen werden. «Mit der neuen Mini-Konzertreihe will das Musikkollegium ein Zeichen der Solidarität setzen und gleichzeitig seinem engsten Kundenkreis die Möglichkeit bieten, auch zu Hause in den Genuss von Live-Musik zu kommen», sagt Samuel Roth, Direktor des Musikkollegiums. Um unzulässige Menschenansammlungen zu vermeiden, werden die Orte und Zeiten im Vorfeld nicht öffentlich kommuniziert. Die Konzerte seien nur für die Bewohner des entsprechenden Wohnhauses und ihre Nachbarschaft gedacht, so Gustavo de Freitas, Mediensprecher beim Musikkollegium Winterthur.
Höchste Zeit, dass weitere subventionierte Häuser nach neuen Formen suchen, und die Sommerfestivals, wenn sie denn überhaupt ein paar Töne spielen wollen, an neuen Projekten herumtüfteln. Wetten, dass bis dann Guerillaclassics längst eine neue Idee hat?
Soulfood Delivery
www.guerillaclassics.org
Musik vor Ihrer Tür
www.musikkollegium.ch
Mobile Konzerte mit La Serenata
www.laserenata.org