Die Formel zum Jahresbeginn ist simpel: Entweder Walzer oder Beethovens 9. Sinfonie mit der «Ode an die Freude». Dann strömt das Publikum in den Saal, dann fühlt es sich erinnert an das legendäre Wiener Neujahrskonzert im örtlichen Musikverein oder an den Abend beim Nachbarn, wo jedes Jahr Beethovens Neunte gespielt wird. Hier gehts beschwingt-beschwipst, da erhaben-tiefsinnig ins neue Jahr.
Die meisten Schweizer Orchester machen es sich einfach und spielen ein Programm, das auch in Wien zu hören sein könnte. Oder soll man eher sagen, sie machen es sich so schwer? Denn hat man den unheimlichen Strauss-Klang der Wiener Philharmoniker mit seinem weltberühmten Dirigenten im Ohr – diese gelöste Perfektion, diese präzise Nachlässigkeit –, kann ein anderes Orchester mit demselben Repertoire nur enttäuschen. Aber vielleicht macht die Champagnerstimmung aus dem Foyer allfällige Mängel im Saalbau im aargauischen Reinach oder in der Tonhalle St. Gallen wett, und es geht mehr um das «Was» als um das «Wie».
«Radetzkymarsch» samt Klatscheinlagen
Wie auch immer: Schweizerland auf, Schweizerland ab gilt die Losung «Jedem Anfang liegt ein Walzer inne». Gewisse Orchester wagen es gar, am Ende in Wien den «Radetzkymarsch» mitsamt Klatscheinlagen aus dem Publikum zu spielen. Andere lassen einen Tenor und einen Sopran singen, da küssen dann alsbald die Lippen heiss.
Es geht aber auch walzerfrei
Das Berner Symphonieorchester etwa spielt wie bisweilen die Philharmoniker in Wien die Ouvertüre zur Operette «Die Fledermaus» von Johann Strauss, um dann ein buntes Arien- und Duett-Potpourri mit Werken von Kálmán, Lehár und nochmals Strauss zu bieten. So leicht, wie das tönt, ist es nicht, beginnt das Konzert nämlich mit einem Werk des russischen Komponisten Rodion Schtschedrin: Aber keine Angst, es handelt sich um die «Carmen-Suite» für Streicher und Schlaginstrumente nach Bizets Oper. Das Werk steht nicht zufällig auf dem Programm, dirigiert doch Alevtina Ioffe: eine Russin, die ab Sommer die neue Chefdirigentin der Berner Oper sein wird.
Auch in St. Gallen, im Aargau, in Biel und Solothurn startet man fast ausschliesslich im Dreivierteltakt. In der Ostschweiz immerhin mit britischem Einschlag, der dem Dirigenten Jamie Phillips zu verdankten ist. Bisweilen wirken drei Takte Mozart oder Bach nach so viel Heiterkeit wie eine Erlösung. Wer einen «ganzen» Mozart möchte, geht nach Luzern oder Zürich.
Dort spielt Gabriela Montero mit dem Zürcher Kammerorchester dessen 24. Klavierkonzert. Freuen darf man sich hier auch auf die kuriose 59. Sinfonie von Haydn. Ebenso walzerfrei bleibt der Abend mit dem Sinfonieorchester Basel, dafür hört man dort den anderen Klassiker: Beethovens 9. Sinfonie.
Aber es geht auch anders. Das Luzerner Sinfonieorchester lockt mit dem Titel «Die Sonne des Südens» mit Solistin Anastasia Kobekina ins KKL. Und hier zu erleben gibt es nicht nur eine aussergewöhnliche Ausnahmecellistin und mit dem Italiener Daniele Rustioni einen ungemein aufstrebenden Dirigenten, sondern auch ein unterhaltendes Programm mit Werken von Catalani, Tschaikowsky, Rimski-Korsakow sowie Repighi.
Ähnlich der Stil des Silvesterkonzertes beim Tonhalle-Orchester Zürich. Zu hören sind Werke von Verdi, Puccini, Saint-Saëns, Ravel und anderen. Hier ist aber keine Cellistin, sondern eine Sopranistin der Star, genauso wie beim Orchestra della Svizzera italiana: Mit Marina Viotti hat man in Lugano eine Schweizer Sängerin engagiert.
Das Kammerorchester Basel hingegen schwingt zwar das Tanzbein, aber zu unbekannten Werken, spielt man doch italienische instrumentale Tanzmusik von der Renaissance bis zum Spätbarock und Instrumentalmusik aus dem frühen 17. Jahrhundert.
Neujahrskonzert in Wien – oder später in Genf
Wer rund um den Jahreswechsel mit dem Neujahrskonzert aus Wien um 11.15 Uhr bedient ist, der fahre eine Woche später nach Genf zum Orchestre de la Suisse Romande: Wie es sich hier gehört, singt mit Sonya Yoncheva ein Weltstar. Quizfrage: Wer findet im Programm den Dreivierteltakt?
Neujahrskonzert aus Wien
TV
Mi, 1.1., 11.15 SRF 1 / ZDF / ORF 2
Radio
Mi, 1.1., 11.15 SRF 2 Kultur u. a.
«Auch ein Strauss-Walzer kann schlecht gespielt sein …»
Warum diese grosse Lust von Veranstaltern und Publikum am Neujahrskonzert? Marcel Falk, Direktor des Kammerorchester Basel (KOB), stellt die Gegenfrage: «Warum lieben wir Musik? Weil sie berührt, emotionalisiert, anregt, verstört und etwas in Bewegung setzt. Ideal, um mit neuen Vorsätzen und Hoffnung ins neue Jahr zu starten.»
Aber er gibt zu bedenken, dass auch ein Walzer von Johann Strauss schlecht gespielt sein kann. Und er fügt augenzwinkernd an, dass er John Cages «4'33''» – ein Stück für beliebige Besetzung, bei dem es 4 Minuten und 33 Sekunden lang zu schweigen gilt – um den Jahreswechsel eher nicht aufs Programm setzen würde. Das will auch heissen: Für allzu viele Experimente ist in diesen Tagen der falsche Platz.
Sein Ideal eines Neujahrskonzertes ist das im eigenen Haus: «Der Silvester-Nachtklang des Kammerorchester Basel in kleiner, fast schon persönlicher Runde ist das beste Neujahrskonzert, verbindet er doch italienische Tanzmusik von der Renaissance bis zum Spätbarock und kontrastiert ihn mit zeitgenössischem Tanz.»
Ein No-Go – ausser «4'33''» – gibt es für ihn nicht: «Alles ist möglich, jede Musik mit Substanz, der wir unseren eigenen und historisch orientierten musikalischen Stempel aufdrücken können.» Und dazu könne sogar ein Abend voller Strauss-Walzer gehören, obwohl Falk betont, dass dies nicht das Kernrepertoire des KOB wäre.
Am Wiener Neujahrskonzert war er noch nie, aber er arbeite hart daran, eine Einladung zu den erlauchten Kreisen zu erhalten, denn das Konzert am Fernsehen könne dieses Livespektakel nicht ersetzen.
Klangvolle Silvester- und Neujahrskonzerte
Tonhalle-Orchester Zürich
Mo, 30.12., 19.30 / Di, 31.12.,
19.00 Tonhalle Zürich
Zürcher Kammerorchester
Di, 31.12., 17.00 KKL Luzern
Mi, 1.1., 17.00 Tonhalle Zürich
Orchestra della Svizzera italiana
Di, 31.12., 18.00 LAC Lugano
Sinfonieorchester Basel
Di, 31.12., 18.30 / Mi, 1.1., 18.00 Stadtcasino Basel
Kammerorchester Basel
Di, 31.12., 21.00 Don Bosco Basel
Trio Zeitgeist
Mi, 1.1., 17.00 Kongresszentrum Davos GR
Berner Symphonieorchester
Mi/Do, 1.1. / 2.1., jew. 17.00 Casino Bern
Luzerner Sinfonieorchester
Mi, 1.1., 17.00 / Do, 2.1., 11.00 KKL Luzern
Sinfonieorchester St. Gallen
Mi, 1.1., 17.00 Tonhalle St. Gallen
So, 5.1., 17.00 Verrucano Mels SG
Sinfonie Orchester Biel Solothurn
Do, 2.1., 11.00 Konzertsaal Solothurn
Do, 2.1., 17.00 Kongresshaus Biel BE
Argovia Philharmonic
Fr, 3.1., 20.00 Saalbau Reinach AG
Sa, 4.1., 19.30 Kurtheater Baden AG
So, 5.1., 11.00 Alte Reithalle Aarau
Orchestre de la Suisse Romande
Mi, 8.1., 19.30 Victoria Hall Genf
Do, 9.1., 20.15 Théâtre de Beaulieu Lausanne