Ich habe in meinem Opernleben viele Diven bewundert, Dutzende Rosen in die Künstlerzimmer gebracht, ich fuhr 2005 Hals über Kopf wegen einer jungen Russin nach Salzburg, bejubelte sie als Violetta. Aber keine dieser lebenden Sängerinnen kam nur annähernd an die tote Maria Callas heran. «Ist das Verklärung?», frage ich im Gespräch Hilfe suchend, meinen Opern- und Callas-Fanatismus anzweifelnd.
Keine Geringere als die Kunsthistorikerin Eva Gesine Baur, die zu Callas’ 100-Jahre-Jubiläum eine 500-seitige Biografie geschrieben hat, antwortet mir: «Menschen, die Callas als einzigartig bezeichnen, verklären sie nicht, sie hören nur genau hin. Sie ist absolut unverwechselbar und unnachahmlich. Das merkt man vor allem dann, wenn jemand sie nachzuahmen versucht.» Peinlich werde es, wenn Schauspielerinnen Fotoposen von Callas imitieren: «Bei Callas kam der Ausdruck, kam jede Geste von innen.»
Maria Callas liess keinen kalt
Was für ein schöner Satz! Doch wirklich peinlich sind doch die Callas-Epigonen, diese singenden Schmalspurgrillen. Baur, die Reflektierende, entgegnet, dass es immerhin grossartig sei, wenn Sängerinnen Callas zum Vorbild hätten und somit sagen könnten, was sie an ihr Vorbildhaftes vorfinden: «Ihren Ausdruckswillen, ihre Radikalität, ihre darstellerische Intensität, die man hören kann, ihren Umgang mit dem Wort, das Bedingungslose, ihre Fähigkeit, oft Gehörtes völlig neu erleben zu lassen:
Das alles war in Callas und findet sich in ihrem Gesang. Wir sehen sie, wenn wir sie hören.» Und was sieht Baur, wenn sie Callas hört? «Ihren Mut zum Risiko und zum Pathos. Sie wollte unbedingt ergreifen, hat sich dafür grenzenlos verausgabt und alles aufs Spiel gesetzt. Gleichgültigkeit war eine Krankheit und ist es heute mehr denn je, in allen Bereichen des Lebens. Callas liess keinen kalt. Wir haben verlernt, uns ergreifen zu lassen, aber wir brauchen es: dieses Erlebnis, gepackt zu werden von Emotionen.
Alles um uns herum, vor allem uns selbst, für ein paar Stunden zu vergessen.» Baurs Biografie erscheint bisweilen wie eine Verteidigung der Callas. Doch hat diese Künstlerin das nötig? Baur sagt klar: «Ja, es klingt absurd, aber die Verzerrungen der Callas sind unwirklich: Sie wird zugeschüttet von Klatsch und Legenden.» Einmal schrieb eine Journalistin: «Callas hatte nur schwarze Hunde, jene der Tebaldi waren weiss.» Unsinn sei das, aber es vereinfache das Bild. «Das Bild» heisst: die böse Callas.
Die Machtgierige, die aufs Geld Versessene. Callas sei nicht narzisstischer als andere Künstlerinnen gewesen, sagt Baur. «Callas war kein Opfer, man musste sie nicht als Opfer darstellen. Sie hat sich nie Dirigenten unterworfen, sondern hat ihnen gesagt, was sie will. Sie hat sich durchgesetzt.»
Ein neues faszinierendes Callas-Bild
Baurs Buch reiht sich ein in ihr bisheriges Werk, das Biografien über Chopin, Mozart und einige andere umfasst. Und da gehören auch Romane dazu, die ebenfalls das Leben grosser Künstler berühren. Die neue Biografie zeigt, dass auch 100 Jahre nach ihrer Geburt längst nicht alles über Maria Callas gesagt worden ist. 25-jährigen Menschen erklären darf, wer die Callas überhaupt war, kann gar nicht genug über dieses Wunder gesprochen werden, auch wenn vermeintlich jeder Tonschnipsel und jedes Foto veröffentlicht ist.
Baur hat zwar keine neuen Fotos und keine neuen Fakten gefunden, aber die alten gründlich hinterfragt und dieses Leben so packend aufgeschrieben, dass ein neues faszinierendes Callas-Bild entstanden ist. Wer das Buch aufschlägt, taucht in ein Leben ein, das keine 54 Jahre dauerte: «Es war später Nachmittag und dämmerte schon, als am 7. März 1937 zwei Frauen am Hauptbahnhof von Athen aus dem Zug stiegen, die hier sofort auffielen», heisst es auf der ersten Seite. Ein Satz, drei Behauptungen.
Das Unglaubwürdige glaubwürdig machen
Gemach: In diesem Buch ist wahrhaftig jedes Detail recherchiert und kontrolliert. Ein Halten gibt es in diesem Feld der nach Lilien duftenden Baur-Worte sowieso nicht: Das Leben der Callas rast dahin. Kaum entdeckt, singt sie in der Arena di Verona, triumphiert in Florenz und Mexiko, in Mailand und New York. Sie heiratet einen Millionär, ist dann zusammen mit einem Milliardär, nimmt Album um Album auf.
Sie dreht einen «Medea»-Film und kämpft alsbald gegen stimmliche Schwächen und die Einsamkeit an. Zur Legende geworden, stirbt sie am 16. September 1977. Und nun? Ab in die Oper? Callas im Ohr? Das kann nicht gut gehen. Baur weiss das und sagt: «Oper ist eine Verzauberungsmaschinerie, die nicht immer funktioniert. Es kann lächerlich wirken, wenn ein Mensch, das Messer in der Brust, noch eine Viertelstunde singt und im Dreivierteltakt stirbt. Callas macht das Unglaubwürdige glaubwürdig.»
Gespräch bei LiedBasel
Gefährlich leben: Maria Callas – (Aus)Brennen für die Kunst
Mit Eva Gesine Baur, Künstlerberaterin
Aimée Paret und Alain
Claude Sulzer (Moderation)
Do, 20.4., 18.30 Don Bosco Basel
Buch
Eva Gesine Baur - Maria Callas – Die Stimme der Leidenschaft
507 Seiten
(C. H. Beck 2023)
Rund um das Lied
LiedBasel ist ein interdisziplinäres Festival, das sich mit der Kunstform Lied auseinandersetzt. Im Zentrum des Festivals stehen Liederabende mit grossen Sängerinnen und Sängern wie Angelika Kirchschlager, Benjamin Appl, Ruben Drole u. a. Umrahmt werden sie von Meisterkursen, Familienkonzerten, Podien und Diskussionen rund um das Thema Lied oder Stimme.
Mi, 19.4.–So, 23.4., Don Bosco Basel
www.liedbasel.ch