Es gibt kein Halten mehr, wir sind mitten in der zweiten Welle: Die Streaming-Zahlen steigen. Was der Scala und der Mozartwoche Salzburg recht ist, ist auch der Zuger Sinfonietta billig. Und dem Sinfonieorchester St. Gallen, der Camerata Basilea und anderen, die dieser Tage auf dem Bildschirm präsent sind. Das Basler Sinfonieorchester hatte gar Mirga Grazinyte-Tyla zu Gast, jene Dirigentin, um die sich alle reissen.
Die Einnahmen sind für die meisten Orchester gering. Ein Beispiel: Für ein Konzert des Argovia Philharmonic mussten die Nutzer unlängst 25 Franken hinblättern. 550 Geräte waren zugeschaltet, macht total 13 750 Franken – so die vermeintliche erfolgreiche Bilanz des Streams. Bei genauerem Hinsehen denkt man: Träumt weiter. Denn Abonnenten und Sponsoren erhielten einen Gratiszugang, Mitglieder setzten ihre Gutscheine ein. Ohne die Spendebereitschaft der Orchesterfreunde hätte das Orchester keine Einkünfte im fünfstelligen Bereich erzielt. Die sind aber beachtlich, nimmt es doch mit einem «normal» ausverkauften Konzert nicht mehr als 15 000 Franken ein.
Möglichkeiten der Kostendeckung
Dennoch: 25 Franken sind viel, wenn man bedenkt, dass etwa die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker pro Monat 14.90 Euro kostet, 9.90 Euro für sieben Tage. Auch die Tonhalle-Gesellschaft verlangt «nur» 9.90 Euro fürs Konzert, selbst wenn man dort nüchtern sagt: «Kultur hat einen Wert.» Beim Musikkollegium Winterthur bezahlt man, so viel wie man will. Wieder andere senden gleich ganz gratis.
Hätte man das Konzert also nicht besser als Benefizkonzert deklariert und auf die Kollekte der Zuschauer setzen sollen? Adrian Zinniker, Klarinettist beim Argovia Philharmonic, widerspricht und sagt, dass die Berliner Philharmoniker ein Millionenpublikum aus aller Welt hätten und mit der Digital Concert Hall auch mit diesen gemässigten Preisen grosse Einnahmen generieren würden. «Wir richten uns mit dem Livestream-Angebot direkt an unser treues Publikum.» Zudem kam der Effekt der Kollekte indirekt zum Zug: Viele Ticketkäufer machten von der Option mit Spendenanteil Gebrauch und zahlten zum Teil das Vierfache des Preises.
Aber machen wir uns nichts vor: Die rund 12 000 Franken eines Argovia Philharmonic reichen längst nicht aus, um die Auslagen für die Übertragung und die Beteiligten zu decken. Die betragen je nach Orchester schnell 50 000 Franken. Eventuell hilft dem Argovia Philharmonic der Kanton Aargau weiter, denn ein Unterstützungsgefäss wurde neu geschaffen: für Transformationsprojekte.
Wenn nicht der Kanton hilft, da vielleicht schon zu viele Diskussionen laufen um Kurzarbeit, Ausfallentschädigungen und so weiter, können Mäzene oder Sponsoren einspringen: Beim Luzerner Sinfonieorchester wie beim Tonhalle-Orchester Zürich war das so.
Musikkollegium Winterthur mit den meisten Klicks
Mit wie vielen Zuschauern die Orchester längerfristig rechnen können, zeigt das Musikkollegium Winterthur, das seit Oktober (fast) alle geplanten Konzerte streamt. Von Beginn weg ging es aufwärts. Aufgrund der hohen Nachfrage erweiterte man im November das Angebot auch für Nichtabonnenten. Mittlerweile verzeichnet man Zuschauer aus über zehn Ländern. Direkt nach der Schweiz mit dem grössten Viewer-Anteil folgen Japan und Südkorea, wo man letztes Jahr auf Tournee war. Erstaunlich: 90 Prozent der Zuhörer, die ein Livestream-Monatspaket buchen, erneuern es im Folgemonat. Unterschiede bei den Wochentagen oder Zeiten konnte Intendant Dominik Deuber nicht feststellen. Der Konzert-Rekordwert liegt bei 1300 Views, im Schnitt erzielt man um die 700 pro Konzert.
Das überrascht, denn Winterthur spielt nicht locker-flockige Programme, passend zum Champagner. Diese Woche stand etwa die Uraufführung eines Bratschenkonzertes des Schweizer Komponisten David Philip Hefti an. Und noch erstaunlicher: Bis für ein paar wenige Personen aus dem Kartenverkauf hat man keine Kurzarbeitsentschädigung angemeldet. Der Betrieb läuft «normal». Ausfallentschädigung wurde einzig für weggefallene Ticketeinnahmen und Gagen von Kooperationsprojekten angemeldet.
Winterthur zeigt: Nur gross sein nützt nichts. Quantität kann bei Finanzierungsfragen sogar für Schwierigkeiten und streamerische Zurückhaltung wie etwa beim Tonhalle-Orchester sorgen. Erfreulich, wie dagegen die Kleinen hohe Zahlen erreichen können: Die Basel Sinfonietta brachte es am 24. Januar auf 1200 Views, obwohl man ausschliesslich neue, moderne klassische Musik spielte.
Balance zwischen Sparen und Grosszügigkeit
Daniela Martin, Geschäftsführerin der Basel Sinfonietta, sagt, dass das Alleinstellungsmerkmal der Sinfonietta als Orchester, das sich ganz auf zeitgenössische Musik spezialisiert hat, gerade beim Streaming zum Tragen kommt. Es soll so bleiben: «In der digitalen Präsentation sehen wir auch über die aktuelle Situation hinaus ein sehr grosses Potenzial für unsere internationale Wahrnehmung.»
Sind Winterthur und Basel demnach Vorbilder, denen es nachzueifern gilt? Dass der aktuelle Streaming-Boom bei regionalen Orchestern noch lange dauert, darf bezweifelt werden. Die Loyalität wird zusammen mit den Spenden sinken, die Nachfrage nach Qualität steigen. Damit tritt auch die Frage nach dem Preis in den Vordergrund. Orchester müssen eine Balance zwischen Sparen und Grosszügigkeit finden, denn gewisse Orchester sind zurzeit dank Kurzarbeit bezahlt, um zu schweigen.
Den Zurückhaltenden ist zu raten, sich jetzt für das digitale Leben im 21. Jahrhundert zu wappnen. Das Luzerner Sinfonieorchester wird im März wieder streamen. Auch die Grossen aus Basel und Zürich haben Pläne. In der Zwischenzeit spielen und streamen andere munter drauflos.
Klassik-Streams
Camerata Basilea
So, 7.2., 17.00
«Couleur du temps»: Martin, Schoeck, Martinu, Honegger
www.cameratabasilea.ch
Camerata Bern
So, 7.2., 17.00
Barockmusik mit Sergio Azzolini
www.cameratabern.ch
Opernhaus Zürich
So, 7.2., 17.30
Brahms: «Ein deutsches Requiem»
live aus dem Opernhaus auf Arte
www.opernhaus.ch
Musikkollegium Winterthur
Do, 25.2., 19.30
Mahler: 3. Sinfonie
Mi/Do, 3.3./4.3., 19.30
Bach mit Ian Bostridge
www.musikkollegium.ch
Berner Kammerorchester
Fr, 26.2., 19.30
Livestream aus dem Theater
National Bern mit T42dance u.a.
www.bko.ch