Wer in Brig auf den Bahnhofplatz tritt, sieht in den Sommermonaten als Erstes ein Plakat des Musikdorfs Ernen. Nach einem letzten Reiseabschnitt mit Bahn und Postauto kommt man in Ernen auf dem Dorfplatz an – und wähnt sich in einer anderen Welt: Der Brunnen plätschert, die alten Walliser Häuser sehen genau so aus, wie man sie sich vorstellt.
Auf dem Weg zu seinem Büro kommt Intendant Francesco Walter die junge Cellistin Chiara Enderle entgegen, sie war dieses Jahr Mitglied des Festivalorchesters. Die beiden grüssen sich herzlich, die Stimmung im Dorf ist familiär. Das Festivalbüro in einem der schmucken Häuser ist hell und modern, hinter weissen Arbeitstischen hängt ein sechsteiliger Bilderzyklus von Hans Erni. Auch sonst ist das Büro mit Kunst bestückt: CDs und Publikationen liegen auf, an den freien Wänden hängen Werke aus dem Wallis.
Junge Musiker statt gehätschelter Stars
Mit seiner ruhigen, gewinnenden Art beginnt Walter zu erzählen: vom diesjährigen Festivalmotto «In Bewegung», von der Festivalgeschichte – und vom Gründer György Sebök. «Ich habe György Sebök 1991 in Martigny spielen gehört und kam kurz darauf nach Ernen, um seinem Meisterkurs beizuwohnen.» Diesen Kurs veranstaltete der ungarische Pianist ab 1974 jeden Sommer, ab 1987 wurde daraus das «Festival der Zukunft». Walter hat grossen Respekt vor Seböks Arbeit: «Der Name zeugt von seiner Bescheidenheit: Er wollte kein Sebök-Festival, sondern eine Plattform für junge Musikerinnen und Musiker schaffen.» Das ist das Musikdorf bis heute geblieben.
Als Sebök 1999 verstarb, war Walter Präsident des Vereins Musikdorf Ernen und seit fünf Jahren fürs Festival tätig. Dennoch bedeute der Tod des Gründers einen Bruch. Walter steuerte das Festival in die Zukunft. Er vergrösserte es, führte Themenwochen zu Kammermusik, Barock, Klavier und Newcomers ein und stellte eine musikalische Co-Leitung mit fünf Mitgliedern zusammen. Walters Strategie erweist sich als erfolgreich. Aufwind erhielt das Festival ab 2004 durch ein Schreibseminar mit Donna Leon: «Plötzlich waren die Medien hier oben in Ernen», erinnert er sich.
Inzwischen kommen jeden Sommer über 6200 Gäste nach Ernen. Doch was macht den Erfolg des Musikdorfes aus? «Unser Vorteil ist, dass wir unerhörtes Repertoire programmieren. Wir laden niemanden ein, der auf Tournee ist und landauf, landab ein Standardrepertoire vorträgt», sagt Walter. Ebenfalls fremd ist in Ernen der Starkult, der an manchen anderen Orten zelebriert wird: «Mit Ausnahme vielleicht einer Harfenistin mit Instrument wird niemand vom Flughafen oder Bahnhof abgeholt. Das ist bei uns ein Prinzip.» Hier oben in den Walliser Bergen sind alle gleich, ob Klassikstar oder nicht.
Für Sponsoren ist das Repertoire zu ausgefallen
Diese Haltung scheint anzukommen: 2013 gewann das Festival den von der Berghilfe ausgeschriebenen Prix Montagne, 2015 den Doron-Preis, und letztes Jahr erhielt es einen Preis der Sepp Blatter Foundation. Setzt sich diese nicht für Fussball und Sport ein? «Blatter ist sehr kulturinteressiert. Wir haben ein Gesuch eingereicht – und der Preis war ein Glücksfall für uns», so Walter. Er meint zu wissen, welcher Satz das Gremium des Prix Montagne überzeugt hat. «Ich schrieb: ‹Wir trainieren seit 40 Jahren für den Prix Montagne.› Das ist keine Koketterie; das Festival trägt zur Wertschöpfung der Region bei.»
Dabei ist das Jahresbudget mit 760 000 Franken für ein zweimonatiges Festival nicht exorbitant. «40 Prozent der Einnahmen stammen aus Ticketverkäufen. Den Rest des Budgets decken Stiftungen und Mäzene ab», erläutert Walter. Sponsoren seien schwieriger zu finden: «Sie suchen eher gängiges Repertoire.» Das bescheidene Budget wird kompensiert durch einen aussergewöhnlich engen Kontakt mit den Musikerinnen und Musikern. Alle erhalten – seit Seböks Zeiten – die gleiche Gage, den Umweg über die Agenturen kann sich Francesco Walter dank den engen Freundschaften sparen.
Das Ziel ist eine Kultur grosser Akzeptanz
Ab Sommer 2019 werden zwei neue Namen im Gremium der künstlerischen Leitung auftauchen: die Pianisten Alasdair Beatson und Paolo Giacometti. Das zieht Neuerungen im Stamm an Musikerinnen und Musikern nach sich. Ada Pesch von der Philharmonia Zürich und Deirdre Dowling werden weiterhin für die Barockkonzerte zuständig sein.
Seit einigen Jahren engagiert sich Walter auch politisch: Er ist Vizepräsident der Gemeinde Ernen, Walliser Grossrat für die CVP und sitzt im Kulturrat des Kantons Wallis. «Man wählt ja Gesichter. Ich bin hier oben ein Paradiesvogel und erst noch schwul», sagt er offen. Und weiter: «Mein Ziel ist in allen Bereichen eine Kultur grosser Akzeptanz.»
Der «Kulturkuchen» im Oberwallis sei eher klein: «Mit geringen Erhöhungen des Kulturbudgets könnte im Kanton extrem viel bewirkt werden.» Im Wallis gibt es weder städtische Theater noch Opernhäuser, die viele Subventionen benötigen. «Inzwischen kommen Staatsräte und Staatsrätinnen nach Ernen, ihre Neugier ist geweckt.» Und Francesco Walter kommt seiner Kultur der Akzeptanz einen Schritt näher.
Musikdorf Ernen
Bis So, 16.9.
Programm: www.musikdorf.ch