Als ich am 14. Juni um 4.00 Uhr 1200 Kilometer östlich von Moskau aus dem Flugzeug steige, geht im Osten die Sonne auf. Ein gutes Zeichen. Doch kaum habe ich mir sieben Stunden später die Beine erstmals vertreten, stolpere ich in Perm unweit des Hotels Ural über eine fette Ratte, deren Bauch aufgeplatzt ist. Würde ich an ein Zeichen glauben, wäre klar, was es hiess: «Zurück, Berzins!» Ich aber schreite mutig vorwärts, hinein in den glänzenden Abgrund, Diaghilev Festival genannt.
Der Begriff «Konzert» ist in Perm mit Vorsicht zu geniessen. Er wird mit einer Radikalität aufgelöst, die schaudern macht. Schon in der ersten Festivalnacht erlebe ich eines der verrücktesten Konzerte meines Lebens. «Psalm» ist es überschrieben und beginnt um 3.30 Uhr. Konzertort ist eine Kathedrale, die sich als ein Museum präsentiert. Im letzten Saal, der voller geheimnisvoller Holzstatuen ist, findet der Weg durch Kerzenlicht ein Ende. Als sich die Statuen nach einer Stunde zum Sonnenaufgang um 4.30 Uhr zu bewegen beginnen – es ist möglich, dass sie gar mitsangen –, begreife ich endlich Parsifals Worte aus Richard Wagners Oper: «Der Raum wird hier zu Zeit.»
Totenkopfpantöffelchen und Punkstiefel
Applaudiert wird nicht, das würde die sakrale Stimmung zerstören. Draussen taucht die Sonne die Kirche in dickes Gold. Zurück im Hotel, frage ich eine Moskauerin, was denn rezitiert worden sei. «Gute Frage», antwortet sie. Der Text, so das Gerücht, soll von Teodor Currentzis geschrieben worden sein. Aufs Geschichtenerzählen verstehen sie sich in Perm. Geprobt werde bis zur Besinnungslosigkeit, jede Nacht feiere man wilde Partys. Mythen, geschaffen, um den 49-jährigen Currentzis und sein Orchester zu glorifizieren, sie ins schwarze Licht zu rücken?
«Wir haben früher ein Stück durchaus während eines Monats jeden Tag zehn Stunden lang geprobt», sagt der bleiche Afanasy Chupin ernst. «Jetzt sind wir professioneller, erreichen in einem Tag viel mehr als je zuvor. Damals suchten wir unseren Weg, auch Teodor.» Der 32-jährige Chupin ist seit 17 Jahren Konzertmeister beim Ensemble MusicAeterna. «Wir werden irgendwann in Salzburg auftreten», habe ihm der Dirigent beim Probespiel damals gesagt.
Selbst wenn der Aufstieg von Teodor Currentzis und MusicAeterna von Nowosibirsk nach Salzburg bis ins Detail – bis in die Totenkopfpantöffelchen und Punkstiefel, die 2014 auf den Sony-Bildern zu sehen waren – medientauglich orchestriert war: Zuerst einmal muss einer ein Orchester haben, das Tag und Nacht hinter ihm steht: «Wir sind im Denken eins, für diese Art des Musizierens gehe ich überallhin», sagt Chupin.
«Überrasche mich!», steht am Eingang
«Magst du Currentzis immer noch nicht?», fragt mich eine russische Journalistin am ersten Abend. Sie hat mich erwischt, denn tatsächlich kritisiere ich Currentzis seit Jahren: sein bedeutungsschwangerer Expressionismus, sein radikaler Umgang mit Dynamik, sein Hang zur optischen Show. Als mir der pechschwarz gekleidete Teufelskerl an Tag II nachts um 3.30 Uhr die Hand gibt, lächelt er. Ich schreibe Teufelskerl, da ich ihn innerhalb dieser Woche in Perm zu bewundern begann. Am Vorabend waren sechs Komponisten zu einem Wettbewerb angetreten, alle hatten ein Gedicht von Paul Celan vertont, keiner im Saal wusste, welcher Komponist wann gespielt würde – einer der Komponisten: Teodor Currentzis.
«Überrasche mich!», steht bezeichnenderweise am Eingang des Zauberreichs von Teodor Currentzis, dem 85 000 Quadratmeter, 12 Fussballplätze, grossen Fabrikgelände Spagina mit sechs Konzerthallen. Im Stadtzentrum stehen die von Lenin-Statuen beschützten Sowjet-Säle und die Oper.
«Mysteria» heisst eines von Currentzis’ Kernstücken des Festivals, das in der grössten Fabrikhalle gegeben wird: Von den 700 Leuten, die um 23.00 Uhr zum Konzert kommen, ist die Hälfte unter 30 Jahre. Sie sitzen in der Saalmitte auf Kissen, derweil die Damen und Herren auf Stühlen Platz nehmen. Ein Orchester gibt es links und rechts, Currentzis ist mal da, mal dort. Filme flimmern über die zwei Leinwände. Barockmusik von Henry Purcell trifft auf Neue Musik – auf George Crumb, Salvatore Sciarrino und auf Andreas Moustoukis, der mit Currentzis die Studenten-WG teilte.
Ein Universum kommt ins KKL
Currentzis steht für eine neue Welt, doch sein Spirit ist in Perm nur noch während des Festivals zu spüren, mitsamt Orchester ist er nach Sankt Petersburg in das ehemalige Dom-Radio-Gebäude gezogen. So kam der König von Perm in jene Stadt, wo im Mariinski-Theater mit Dirigent Valery Gergiev bereits der von Putin beschützte Musikzar herrscht. Eine Moskauer Currentzis-Verehrerin zuckt mit den Schultern: «Gergiev ist Mainstream, das Mariinski-Theater ein Supermarkt. Im Vergleich dazu ist Currentzis’ ‹Dom Radio› ein veganes Restaurant.» In diesem Musiklaboratorium werden die Projekte ausgedacht. Damit kommen Currentzis und sein Ensemble nun auf Tournee ins KKL nach Luzern. Auf dem Festival-Programm stehen drei Konzerte, Masterclasses, Filme und eine Fotoausstellung. Ilja Chakhov, der Leiter der künstlerischen Planung, sagt über die Gast-Residenz: «Es ist nicht so einfach, mit so viel Gepäck irgendwo anzukommen.» Gepäck ist im übertragenen Sinn gemeint, denn da kommt ein Universum ins KKL. Luzern kann etwas erleben.
Festival
Gastresidenz Teodor Currentzis
Mi, 6.10.–Fr, 8.10., KKL Luzern
www.kkl-luzern.ch
CDs
Teodor Currentzis
Beethoven: Symphony No. 7
(Sony 2021)
Teodor Currentzis
Beethoven: Symphony No. 5
(Sony 2020)