Was tun, wenn Chefdirigent und Orchester bestens harmonieren, wenn es so weit ist, dass man seelenruhig die Früchte ernten könnte? Und ja, wenn vielleicht sogar – schrecklich zu sagen – die Gefahr besteht, den Erfolg geniessen zu können?
Wer auf das Jahresprogramm des Luzerner Sinfonieorchesters (LSO) schaut, erkennt, dass sich dieses Gefühl nicht einschleichen wird. «Experiment und Weltpremiere» wird es etwa heissen, wenn im Frühling Herbert Grönemeyer vor dem Orchester steht. Auf einer anderen Schiene wird das Orchester mit Chefdirigent James Gaffigan weiter am grossen sinfonischen Repertoire arbeiten. Intendant Numa Bischof sagt: «Das Abo-Konzert hat Zukunft, aber flankierend dazu muss anderes geschehen.»
Wie ein frisch verliebtes Paar
Bischof und Gaffigan spielen sich die Bälle zu, sie wirken bisweilen wie ein frisch verliebtes Paar. Der eine sagt: «Lass uns am Freitagabend nach Paris fahren!» Der andere antwortet: «Paris, da waren wir doch schon, fliegen wir nach Barcelona!» Und der Erste entgegnet munter: «Nach Barcelona gehen doch alle, warum fahren wir nicht nach Gent?!»
Man setze anstelle Paris «Beethoven», anstelle Barcelona «Brahms» und statt Gent «Charles Ives» – und schon hat man eine typische Diskussion der zwei Leaderfiguren des LSO aufgeschnappt, in der es darum geht, wie man einen Konzertabend, der mit einem Werk von Ottorino Respighi begonnen hat, weiterführen könnte.
Spitzenmusiker holen –und sie halten
2010 wurde Gaffigan Chefdirigent in Luzern. Sein Ziel: das Orchester erstklassig zu machen und das Fundament für seine Karriere zu bilden. Das Orchester ist in blendender Verfassung, «KKL-Orchester» hat es sich auf die Fahne geschrieben. So gerne sein Intendant diesen Brand hört, der Dirigent relativiert ihn: «Es steht weniger für eine akustische Idee als viel mehr für einen modernen Geist.» Alle wissen, was sie an diesem Saal haben. Aber der Chefdirigent will die Qualität seines Orchesters nicht dem KKL verdanken. Er betont, wie toll das Luzerner Sinfonieorchester auch im Concertgebouw in Amsterdam oder in der Philharmonie in Paris gespielt habe.
Wichtig ist ihm, dass es seinen Musikern gut geht. «Wir wollen sie glücklich machen, auch wenn das Leben hier als Orchestermusiker, der zwischen Theater und KKL pendelt, schwierig ist», sagt Gaffigan. Es gilt, Spitzenmusiker zu holen – und zu halten.
Eine von ihnen ist Konzertmeisterin Lisa Schatzman. Gefragt, wohin der Aufschwung führen könne, zuckt sie die Schultern: «Wir sind Musiker, wir wollen kein Ende dieses Prozesses, wir kommen raus aus einem Konzert und denken: Das war gut, aber das können wir das andere Mal besser machen. Wir tauschen uns dauernd aus: Es gibt keine Grenzen für uns. Wir sind offen und hungrig.»
Gaffigan schwärmt von diesem Hunger, erinnert sich, wie die Holzbläser in Schuberts 8. Sinfonie klangen: «Das kann anderswo nicht besser sein.» Und dann fügt er leise an: «Die wissen gar nicht, wie gross und gut sie sind.» Ein Grund für das wachsende Selbstvertrauen und den Aufstieg war durchaus dieser James Gaffigan. Er war drauf und dran, seine Dirigentenkarriere zu lancieren, hatte aber noch keine Chefposition inne – da kam just das Angebot von Bischof. Gaffigans Mentor Franz Welser-Möst warnte ihn, dass es in Luzern nicht einfach sei, da doch während des Festivals – an Ostern, im Sommer und im November – die besten Orchester und Dirigenten der Welt im KKL auftreten würden. Doch der selbstbewusste US-Amerikaner dachte: «Was will ich mehr, als mit den Berlinern verglichen zu werden!»
Wahrscheinlich wusste auch Bischof, was dieser Amerikaner für Ansprüche haben würde. Und mit Sicherheit wusste Bischof, wie ungeduldig Gaffigan war, wie er es kaum erwarten konnte, abzuheben. Umso härter war der Start. «Es gab keine Katastrophen, das Orchester und ich brauchten aber zwei, drei Saisons, um einen Fluss zu finden. Ich verlangte zu viel, ich begriff nicht, warum nicht alles schneller ging, ich war zu ungeduldig, war nicht in der europäischen Mentalität, war zu sehr Amerikaner, verlor das grosse Bild, dachte manchmal zu viel an die Intonation, an den Ensemblegedanken.» Musik zu machen mit einem Orchester habe viel mit Vertrauen zu tun. Und in der dritten Saison war es dann da, alle Frustrationen verschwunden: «Ich vertraute ihnen, sie mir, und ich merkte: Die grössten Beziehungen brauchen Arbeit.»
Gaffigan nennt die Luzerner im Gespräch auch einmal seine «Mini-Wiener-Philharmoniker», da die LSO-Musiker so wunderbar zuhören könnten: «Die haben dafür eine Intuition. Da erkennt man durchaus das Opernorchester.»
«Spielt ihr ‹Pirates of the Caribbean›?»
Zwischen den Höhenflügen liegen Abstürze, die Gaffigan nur schwer verdaut. Als seine Frau einst ihre Geige in Luzern im 14er-Bus liegen liess, geriet das Paar in Panik, wartete, bis der Bus seine Runde gedreht hatte, hoffte, zitterte – und siehe da: Der Buschauffeur präsentierte den staunenden Amerikanern das teure Instrument. «Ich wollte ihn mit Karten für unsere Konzerte beschenken, und wenn ich das erzähle, bricht es mir jetzt noch fast das Herz.» Denn er fragte: «Ist das dieses Film-Orchester, spielt ihr ‹Pirates of the Caribbean›?»
Konzert
Saisoneröffnung mit Bruckner und Brahms
Solist: Joshua Bell
Mi, 16.10. & Do, 17.10., 19.30 KKL Luzern
CDs
James Gaffigan/Luzerner Sinfonieorchester
Beethoven, 9. Sinfonie
(Sony 2018)
Das Beethoven Projekt
5 Klavierkonzerte, Oliver Schnyder
(Sony 2017)
Brahms, Violinkonzert, Vadim Gluzman
(BIS 2017)