So tollkühn Andreas Ottensamer Klarinette spielt, so samtig und wohlwollend verpackt der 33-Jährige seine Worte. Und kommt eine Frage, der er nicht mit Abwägen ausweichen kann, verschanzt sich der Wiener hinter einem Wall Humor: «Ich glaube, das Mikrofon knirscht gerade», sagt er auf die Frage, wann er denn nun die Berliner Philharmoniker verlasse.
Ja, dieser grosse Schritt liegt in der Luft, hat doch der Solo-Klarinettist des weltberühmten Orchesters neben seiner Tätigkeit als Kammermusiker, Festivalmacher (etwa auf dem Bürgenstock), Solist und Berliner Orchestermusiker begonnen zu dirigieren. Bereits füllt sich sein Kalender mit Engagements. Offenbar zweifelt niemand, dass der Klarinettist nach kurzer Lehrzeit den Orchestern etwas bringt. Ottensamer selbst sieht es sowieso nicht als Kurswechsel: «Was die Materie oder innere Motivation betrifft, ist es keine Weichenstellung, sondern eine Intensivierung meiner musikalischen Einstellung. Es ist meiner Entwicklung nicht entgegengerichtet, sondern das Dirigieren führt sie weiter.»
Da reifte ein Musiker zum Dirigenten
Fast wirkt er, als ob er sich für den Drang aufs Podium entschuldigen muss: «Retrospektiv fühlt es sich für mich sogar so an, als ob immer alles darauf hingezielt hätte.» Er hatte zwar nicht das Dirigentenpult als Ziel vor Augen, sei aber immer an der ganzen Partitur interessiert gewesen. Das Publikum mag in ihm noch so sehr den Klarinettisten sehen, für ihn selbst gab es nie ein Label: weder Orchestermusiker, Kammermusiker noch Solist. Anders gesagt: Da reifte ein Musiker zum Dirigenten.
Allerdings wird er nicht der nebenbei dirigierende Solist, wie es zurzeit Mode ist, sondern ein «echter» Dirigent. Und so zeigen sich in seinen Programmen, wo er als Dirigent auftritt, durchaus bereits die sinfonischen Schlachtrösser. Es ist zu reizvoll, ihn zu fragen, wie es denn sei, wenn er im Orchester sitze und vorne ein junger Dirigent ohne viel Erfahrung stehe. «Der Dirigent hat eine grosse Verantwortung für alle», sagt er. «Manchmal besteht bei erfahrenen Dirigenten die Gefahr, in Routine zu verfallen, das ist dann weniger inspirierend.» Es käme immer auch auf die Chemie im Orchester an. «Es ist gang und gäbe, dass jemand mit ein und demselben Programm zu Orchester A kommt und alles schiefgeht, und bei Orchester B wird es ein Triumph.»
«Ich versuche, das Feuer zu entfachen»
Welchen Typ Dirigent er mag, will er nicht sagen – und tut es dann indirekt doch: «Ich bin inspiriert, wenn es über eine organisatorische Arbeit hinausgeht, wenn ich merke, der da vorne brennt dafür. Auch wenn man dann Gefahr läuft, im Überschwang nicht mehr die Kompaktheit in der Klarheit zu erreichen. Wenn man emotional runterfährt und es cooler macht, dann geht es leichter, aber dann wirds auch abgeklärt. Ich versuche eher, das Feuer zu entfachen und eine Klarheit reinzubringen.» Kaum war vom «Dirigenten da vorne» die Rede, spricht er von sich als Dirigent. Das käme daher, dass er als Musiker derselbe Typ sei: «Ich riskiere eher etwas, das mal in die Hose geht.»
Mit Risiko inszeniert er sich auch auf Instagram: Dort sieht man ihn im Fitnesscenter oben ohne oder im Ganzkörper-Pyjama vor dem Weihnachtsbaum. Die Klassikszene rümpft darüber die Nase. Was solls? Er macht das, was viele junge Menschen auf Instagram tun. Jahrhundertdirigent Herbert von Karajan (1908–1989) setzte sich einst spektakulärer in Szene: heisse Schlitten, junge Frau, Flugzeuge … Die paar Ottensamer-Fotos sind nicht der Rede wert. Aber der Rede wert ist die Rolle, die Ottensamer in der Klassikszene damit spielen könnte – und spielt.
Vor kurzem etwa in Amsterdam. Da gab er mit seinem «Bro», wie er seinen dirigierenden Kumpel Lorenzo Viotti nennt, ein wildes Konzert. Der Saal kochte. Ottensamer kommentierte die Bilder auf Instagram mit: «We put it all out there – and you guys went full in with us.» («Wir haben alles von uns gegeben – und ihr seid voll mitgegangen.»)
Lassen sich junge Leute via Instagram ins Konzert locken? Vielleicht, seine Instagram-Geschichten würden jedenfalls zu seiner Persönlichkeit gehören, sagt er. Er benutze ein lebendiges Medium, um interessierten Leuten zu zeigen, was er tue: «Das ist besser als eine starre Internetseite. Ich habe eine Stimme, kann Dinge bewegen und anregen.» 61 100 Menschen folgen ihm auf Instagram, 45 000 sind es auf Facebook. Begeistert erzählt er, wie in Amsterdam seit Lorenzo Viottis Amtsantritt 2021 das Publikum zehn Jahre jünger wurde.
Charismatische Köpfe sind publikumswirksam
Wie Dirigent Viotti ist Klarinettist Ottensamer bei den Veranstaltern begehrt, gibt es doch im Klassikbetrieb nur wenige, die auf dem Werbeplakat derart für Aufmerksamkeit sorgen. So einer ist nicht nur am Gstaad Menuhin Festival ein begehrter Artist in Residence. Im Berner Oberland gibt er Ende Juli gleich vier Konzerte. Nur schade, sind die Auftritte dicht gedrängt. Aber eben: Ottensamers Terminkalender ist voll. Und es wird nicht besser, wenn es klappt mit dem Dirigieren. Dann wäre er endgültig am Schalthebel, um der Klassikwelt neue Impulse zu geben.
Das ist bitter nötig, das Publikum wird immer älter, dunkle Corona-Schatten liegen über dieser Welt. Künstler wie Viotti oder Ottensamer sind umso wichtiger, um ein neues, junges Publikum anzulocken. Es ist höchste Zeit, neben den traditionellen, beim Stammpublikum beliebten Abenden andere Formen zu finden, die das Ewiggleiche variieren, vielleicht gar aufsprengen. Und das geht nur über charismatische Künstlerköpfe und nicht über dramaturgische Ideen, die im Intendantenbüro ausgeheckt werden.
Konzerte
Andreas Ottensamer am Menuhin Festival
Di, 26.7., 19.30 Kirche Zweisimmen BE
Mi, 27.7., 19.30 Kirche Lenk BE
Do, 28.7., 19.30 Kirche Saanen BE
Do, 28.7., 22.00 Le Grand Bellevue Gstaad
Gstaad Menuhin Festival
Fr, 15.7.–Sa, 3.9. Gstaad und Umgebung BE
www.gstaadmenuhinfestival.ch
CDs
Blue Hour
Mendelssohn Edition
(DG 2021)
Blue Hour
Weber, Brahms, Mendelssohn
(DG 2019)