kulturtipp: Lena-Lisa Wüstendörfer, im Januar starten Sie mit Ihrem Swiss Orchestra zu einer Tournee. Was erwartet das Publikum da?
Lena-Lisa Wüstendörfer: «Surprise Schweizer Sinfonik» kombiniert, wie beim Swiss Orchestra üblich, unbekannte Schweizer Sinfonik mit berühmten Highlights aus dem Klassik-Repertoire. Diesmal sind dies Mozarts «Kleine Nachtmusik» und Tschaikowskys Streicherserenade, wobei wir Letztere verschränken mit Orchesterstücken des in Russland aufgewachsenen Schweizer Komponisten Paul Juon. Wir sind erstmals mit einer reinen Streicherformation unterwegs – und mit Christoph Pfändler, der als Rockmusiker unter den Hackbrettlern gilt und sich des Soloparts im Hackbrettkonzert von Paul Huber annimmt. In Herisau entfällt das Hackbrettkonzert, dort spielt Noldi Alder Eigenkompositionen am Hackbrett.
Mit dem Swiss Orchestra wollen Sie vergessene Werke von Schweizer Komponisten zum Klingen bringen. Wie sind Sie darauf gekommen?
Ich bin bei Auftritten etwa in Asien gefragt worden, ob ich nicht ein Stück Schweizer Sinfonik mitbringen kann. Im ersten Moment fällt einem da nicht viel ein. So habe ich angefangen, überall in der Schweiz in Bibliotheken und Archiven nach verborgenen Schätzen zu suchen – und bin in einem erstaunlichen Mass sowohl in der Deutschschweiz wie in der Romandie fündig geworden. Auch die eine oder andere Zuschrift der Nachfahren von Komponisten hat mich erreicht. Und natürlich hat mir mein musikwissenschaftliches Studium bei der Arbeit in den Archiven sehr geholfen.
Wozu brauchen Sie für dieses unbekannte Repertoire ein eigenes Orchester, und wie haben Sie es gefunden?
Um diesem unbekannten Schweizer Repertoire gerecht zu werden und die Schweizer Sinfonik nachhaltig bekannt zu machen, braucht es einen Klangkörper mit Entdeckergeist, der Lust hat, diese Trouvaillen für sich zu erschliessen. Da lag es nahe, das Swiss Orchestra zu gründen. Ich habe also Musikerinnen und Musiker gefragt, die ich von meiner Dirigiertätigkeit her bereits kannte. Zum Teil stammen sie aus angesehenen Sinfonieorchestern, zum Teil handelt es sich um profilierte Kammermusiker. Das ist auch ein wichtiger Aspekt: Es soll ein Orchester sein, dessen Musiker gut aufeinander hören, wie ich das bei Claudio Abbados Orchestern beobachten konnte.
Sie sind 2007 und 2008 bei Claudio Abbado Assistenzdirigentin gewesen. Was hat Sie an diesem grossen Dirigenten fasziniert?
Zweierlei: Zum einen, wie Claudio Abbado es in den Proben wie im Konzert geschafft hat, mit wenigen Worten und ganz sparsamen Gesten vom Orchester verstanden zu werden. Und zum andern, wie unterschiedlich die Klangfarben waren, die er aus ein und demselben Orchester herauszulocken verstanden hat. Er war ein Klangmagier.
Nun gibt es ja nicht viele Dirigentinnen – und noch weniger solche, die auch noch Musikwissenschaft studiert haben. Erklären Sie uns Ihren beruflichen Lebensweg.
Ich stamme zwar nicht aus einer Musikerfamilie, aber doch aus einem sehr kulturaffinen Elternhaus; mein Vater war Schauspieler und Fernsehsprecher. Das Interesse an der Musik hat sich zunächst in einem Violinstudium an der Musikhochschule Basel manifestiert. Doch weil mich der Orchesterklang schon immer tief fasziniert hat, habe ich zum Dirigieren gewechselt. Und weil ich die Musik von allen Seiten erkunden wollte, habe ich an der Universität Musikwissenschaft studiert.
Als Frau sind Sie am Dirigentenpult immer noch eine Exotin. Beschäftigt Sie das, spüren Sie es?
Das Thema beschäftigt mich nicht. Ich bin, wenn ich dirigiere, ganz stark fokussiert auf meine Arbeit und auf das jeweilige Stück. Ich habe in der Arbeit mit Orchestern nie wirklich die Erfahrung gemacht, dass ich wegen meines Geschlechts nicht akzeptiert wurde. Die Orchester wollen vielmehr wissen, ob die Frau da vorne ihr Handwerk versteht.
Mit dem Swiss Orchestra starten Sie im Februar auch als Intendantin von Andermatt Music. Was haben Sie im Bergdorf vor?
Das Swiss Orchestra wird weiter mit Schweizer Sinfonik im ganzen Land aktiv sein, aber es wird ab kommendem Jahr auch als Residenzorchester in Andermatt wirken. So spielen wir dort auch auf Andermatt zugeschnittene Konzerte wie ein Familienkonzert mit Prokofjews «Peter und der Wolf» und Bernhard Russi als Sprecher. Neben der Schweizer Sinfonik wird Andermatt Music aber noch von zwei weiteren Schwerpunkten bestimmt: Weltstars werden auftreten wie etwa am Auftaktwochenende die Pianistin Hélène Grimaud. Und wir bitten innovative Formationen aus der Innerschweiz zu uns.
Wie klingt denn Ihr neuer Konzertsaal da oben?
Oh, sehr gut. Das Publikum sitzt auf einer Tribüne nah an den Musikern, sodass eine persönliche Atmosphäre fast wie bei einem Hauskonzert entsteht. Und man kann in Andermatt ganz locker Skifahren und Wandern mit einem Musikerlebnis verbinden. Ich hoffe deshalb auf ein sehr gemischtes Publikum. Zuvor allerdings dirigiere ich im Casino Bern noch die Weihnachtskonzerte mit dem Orchestra of Europe, dem Berner Bach Chor und dem Pianisten Teo Gheorghiu.
Das Multitalent
Lena-Lisa Wüstendörfer, geboren 1983 in Zürich, hat an der Hochschule für Musik in Basel Violine und Dirigieren studiert und an der Universität Basel mit einer Arbeit über Gustav Mahlers vierte Sinfonie im Fach Musikwissenschaft promoviert. Sie vertiefte ihre Dirigierstudien bei Sylvia Caduff und Roger Norrington und war bei Claudio Abbado Assistenzdirigentin. Sie ist Chefdirigentin des von ihr initiierten Swiss Orchestra, künstlerische Leiterin des Berner Bach Chors und ab 2022 Intendantin von Andermatt Music.
Konzerte
Weihnachtskonzert: Berner Bach Chor, Orchestra of Europe
So, 26.12., 16.00 Casino Bern
Swiss Orchestra: Surprise Schweizer Sinfonik
Sa, 1.1., 17.00 Stadttheater Langenthal BE / So, 2.1., 17.00 Kunsthaus Zürich / So, 9.1., 17.15 Kirche Andelfingen ZH
Weitere Tourneedaten: www.swissorchestra.ch
Andermatt Music: Auftaktkonzert: Swiss Orchestra und Alina Pogostkina
Fr, 4.2., 19.30 Andermatt Konzerthalle UR – www.andermattmusic.ch
CD
Joachim Raff: Traumkönig und sein Lieb
August Walter: Sinfonie Es-Dur
Mit dem Swiss Orchestra und Marie-Claude Chappuis
(Schweizer Fonogramm 2020)