Das Junggenie hat schlecht geschlafen. Es hat noch kein Frühstück gehabt und steht trotzdem um 9.30 Uhr pünktlich in der Lobby des Parkhotels Winterthur. Scheitel und dunkler Anzug sitzen perfekt wie am Vorabend beim Konzert. Den Fotografen allerdings, nein, den wollte er beim Interview trotzdem nicht dabei haben … Dafür sagt Rafal Blechacz alsbald seine Meinung – eine radikale.
Nach dem Gespräch wird der Pole trotz Neuschnee selber ins Auto steigen und in die Heimat fahren. «Ich mache das in Europa immer so, ich mag diese Fliegerei nicht.» So reden auch Grossväter. Blechacz ist erst 27 Jahre alt. Aber es scheint ihn fast zu stören, wenn man ihn als «jungen Pianisten» bezeichnet. «Ein Pianist muss die Emotionen des Komponisten erahnen, sie neu erschaffen und sie dem Publikum zeigen. Für diese sensible Kunst ist das Alter nicht entscheidend.»
«Das fühlt man»
Immerhin: Die Meinung, dass ältere Pianisten mehr atmosphärische Tiefe erzeugen können, bestätigt er. Wer ihm aber sagt, dass man das lernen müsse, den lächelt er still an: «Ja, üben braucht Zeit. Aber Intuition …?»
Wir fahren gröberes Geschütz auf und fragen: «Sind Sie ein Genie, Herr Blechacz?» Er geht nicht darauf ein, sagt bloss: «Wenn jemand fragt, wie man ein Rubato spielt, eine mehr oder weniger freie Verlängerung oder Verkürzung im Spielen von Tönen, was soll ich da erklären? Das fühlt man oder nicht.»
Wir trafen 2006 das erste Mal auf Rafal Blechacz. Tastensprinter Lang Lang hatte sein Konzert in Verbier zum Glück abgesagt, Blechacz sprang ein und wir schrieben: «Blechacz spielt Haydn mit Ernst und Musikalität, die ihresgleichen sucht; bei Chopin kommt eine unheimliche Virtuosität hinzu.»
Treffen mit Rubinstein
Wo liegen die Wurzeln dieses Spiels? Sicher ist: Rafal Blechacz gehört nicht zu einer bestimmten jungen Pianistengeneration. Lange über die Alterskollegen sprechen mag er nicht, lieber schwärmt er von alten Pianisten. Oder von toten. Dann beginnt er zu strahlen, erzählt von einem imaginären Treffen mit einem, der seit 30 Jahren nicht mehr lebt: «Heute Nacht hatte ich ein nettes Treffen mit Arthur Rubinstein – ich hörte dank Youtube ein Moskauer Konzert, er spielte Chopin und Villa-Lobos. Er war ein grosser Künstler!»
Seit seiner Kindheit ist Blechacz diesem polnischen Klaviermythos eng verbunden, aber auch den Legenden Ignacy Jan Paderewksi oder Vladimir Horowitz. «Wenn meine Interpretation fertig ist – oder fertig zu sein scheint –, suche ich die Auseinandersetzung mit anderen Interpreten. Das hilft mir, inspiriert mich noch einmal.» Er fragt die verstorbenen Kollegen indirekt um Hilfe, indem er ihre Aufnahmen studiert – je nach Stück mal diesen, mal jenen.
Schon 2005 hat Blechacz die Menschen hingerissen. Erst die Jury des berühmtesten Klavierwettbewerbs der Welt, dann ein ganzes Volk: Nachdem er den Chopin-Wettbewerb in Warschau gewonnen hatte, wurde er in Polen auf Händen getragen.
Der Wettbewerb veränderte sein Leben, der Traum vom weltweit gefeierten Solisten wurde wahr. «Aber ich denke auch an die Zeit in zehn Jahren, vor allem was das Repertoire betrifft. Ich übe schon Werke, die ich dann spielen werde. Es ist wichtig für mich, im Moment nicht zu viele Konzerte zu spielen, 40 pro Saison sind genug.» 100 Mal könnte er spielen, würde er seiner Agentur folgen, und sehr reich damit werden. Doch noch verlangt er von der Welt Zeit: Blechacz braucht sie für die Inspiration, zum Üben und zum Ausruhen. Selbst die auf immer neue CDs drängende Deutsche Grammophon hat unterdessen akzeptiert, dass der stille Pole pro Jahr nur eine Aufnahme macht.
Zeit zum Nachdenken
Andere in diesem exklusiven DG-Club waren ebenfalls Gewinner des Chopin-Wettbewerbs, Krystian Zimerman oder Maurizio Pollini etwa. Nachdem Pollini 1960 den Preis gewonnen hatte, kam er einigen Sofortverpflichtungen nach, zog sich dann aber für fast fünf Jahre zurück. Blechacz bewundert das, meint indes, so etwas wäre heute nicht mehr möglich. «Das wäre für mich gefährlich gewesen – es gibt so viele Pianisten! Ich spiele zwar nicht allzu oft, aber an den wichtigen Orten. So bleibt mir Zeit, um übers Repertoire nachzudenken. Und über mich.» Auch uns bleibt zum Glück noch viel Zeit, um über diesen Polen nachzudenken.
Hören kann man ihn Ende Februar. Er wird mit dem Zürcher Tonhalle-Orchester Beethovens 2. Klavierkonzert spielen – das stille, selten gespielte. Und ja, Sie ahnen schon … er sagt es gelassen: «Genau deswegen spiele ich es.»
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Debussy/Szymanowski
(DG 2012).
Sonatas: Beethoven, Haydn, Mozart (DG 2008).
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