Die Künstler in drei Risikogruppen aufgeteilt, die Besucher im Schachbrettmuster im Saal, die Salzburger-Festspiele-Maske à zehn Euro über der Nase … Alles ist gut gemeint und gibt immerhin das Gefühl: Es wird schon gehen. Jedenfalls solange nichts passiert. Auf zum Fest: 100 Jahre Festspiele!
Feiern die Aerosole eine Freiluftparty?
Man sitzt freudig nervös in der Felsenreitschule, im Kopf tanzen die Erinnerungen an 40 Festspieljahre Walzer, die Ouvertüre zu Mozarts Oper «Così fan tutte» steigt fauchend aus dem erhöhten Orchestergraben, die Paare singen ihre falschen Liebesschwüre himmlisch schön, und dann passierts: Tränen kullern über die Maske. Verfluchte Musik, unergründbar mächtiger Zauber. Eine nasse Maske, es muss der Albtraum eines jeden Virologen sein.
Ob beeinflusst vom monatelangen Entzug und der namenlosen Freude, endlich wieder in einem Opernhaus zu sitzen: Seit 1984 hat man in Salzburg keine bessere «Così» gehört. Damals dirigierte Riccardo Muti und nun Joana Mallwitz – feurig stringent. Dank Regisseur Christof Loy erlebt man jetzt eine tiefsinnige und melancholische Regie, die den Geist der Musik wundersam atmet. Selten sang ein Ensemble so einheitlich auf hohem Niveau. Doch Moment! Soll dies eine Musikkritik werden? Darf man schon wieder so arrogant sein, zu behaupten: Gut – Schlecht? Muss es nicht vielmehr heissen: Danke, dass ihr für uns spielt!
Offenbar ist die Antwort Nein. Denn da sitzt die FAZ, dort die «New York Times»: Es wird geurteilt wie eh und je, gestritten, gescherzt und gejubelt. Doch stopp! Fördert das läppische Händeschlagen nicht den Virenflug? Und feiern die Aerosole beim Bravo!-Brüllen nicht eine Freiluftparty? Aufzuhalten waren die Rufe bei «Così fan tutte» auf jeden Fall nicht, bei Richard Strauss’ «Elektra» ebenso wenig.
Ein überflüssiger Prolog musste bei «Elektra» überstanden werden, dann erfolgte das Klangwunder: Verursacht hatten es die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Zürichs Ex-Generalmusikdirektor Franz Welser-Möst. Unglaublich, die flammende Freude der Rache, die da im Orchestergraben loderte, die düstere Unruhe, die da rumorte. Mitsamt den tumultartigen Entfesselungen wurde alles mit nuanciertem Klang und musterhaft genau gemeistert. Elektras kleine Schwester Chrysothemis (Asmik Grigorian) triumphierte allerdings über ihre grosse Schwester Elektra (Ausrine Stundyte) – auf alle Fälle stimmlich. Die Regie von Krzysztof Warlikowski vertraut alsbald auf starke, bisweilen rätselhafte Bilder, ohne viel zu (zer-)deuten.
Ein mögliches Zeichen für alle Kulturinstitute
Allerdings tigerte das Publikum zur Eröffnungspremiere – gespannt auf das, was da kommen mag – schon eine halbe Stunde vor Türöffnung vor dem Festspielhaus herum. Ischgl liess grüssen: Der jeder sozialen Distanz spottende Stau war nicht wegzubringen, zumal jede und jeder sich ausweisen musste.
Bis die Besucherinnen und Besucher auf ihren Plätzen sassen, blieb die Maske auf. Dann erfolgte via Tonband die schmeichelhafte Ansage von Schauspielerin Caroline Peters: «Sie dürfen den Mund- und Nasenschutz nun abnehmen.» Kaum getan, fügte sie an, man solle ihn aufgesetzt lassen, wenn er nicht weiter störe.
Schutzkonzepte da – Corona bla, bla? Endlich gilt das Interesse der Kunst! Steil über die Klippen hinab geht der Sprung, ob ins Glück oder ins Unglück? Ins Leben ganz bestimmt. Und obwohl die Salzburger Festspiele naturgemäss an sich denken, spielen sie auch für Wien und Zürich, ja die Welt. Gelingt es, 30 Tage lang mehr oder weniger Corona-frei durchzukommen, wäre es ein Signal an die Corona-Politiker weltweit, wäre es das Zeichen für die Kulturinstitute: Wenn ihr aufpasst, könnt ihr spielen.
Da der Waller, dort die Backhendl
Wer nach dem Jubel am Eröffnungsabend in die Festspielstadt trat, hätte meinen können, es sei Sommer 2019: eine Schlange vor dem «Goldenen Hirschen», Polterabendgruppen im «Sternbräu», die «Blaue Gans» bestens besucht – vom überfüllten «Triangel» ganz zu schweigen. Da der Waller, dort das Backhendl, überall die Eierschwammerl.
Trotz Corona-tauglicher Kurz-fassung kosten die Karten für «Così fan tutte» zwischen 30 Euro hinter der Säule und 445 Euro im Parkett. Erstaunlich oder eben nicht: Es hat Karten für (fast) alle Vorstellungen: Statt 240 000 Karten liegen 2020 nur 76 000 auf – immer noch so viele wie beim Lucerne Festival an einem normalen Vor-Corona-Sommer in sechs Wochen. Statt der im letzten Herbst vorgestellten 200 Vorstellungen an 44 Tagen gibt es in Salzburg 110 Vorstellungen an 30 Tagen, statt 30 Millionen Euro Einnahmen nur 7,5 Millionen Euro.
«Jedermann» entfernt sich von der Erhabenheit
Cashcow wie eh und je ist «Jedermann». Zwölf Mal wird er gegeben. Mit Hugo von Hofmannsthals Stück über das Sterben des reichen Mannes begannen im August 1920 die Festspiele. Festspielgründer Max Reinhardt machte aus der Not eine grossartige Tugend und wählte damals den Domplatz als Aufführungsort aus. Dass die erste Tribüne aus dem Holz der Baracken eines riesigen Lagers für Kriegsgefangene – dem sogenannten Russenlager – vor den Toren von Salzburg gezimmert wurde, ist für die Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler ein wunderbar gegenständlicher Beweis im Sinne der Festspielgründer. Sie sieht den «Jedermann» als ein Friedensprojekt. Schade, wird die Regie immer poppiger und lärmiger und entfernt sich Jahr für Jahr von der Erhabenheit von einst.
Auch die zweite Theaterpremiere brachte trotz pompösem Schlagwort «Peter-Handke-Uraufführung» Langeweile: In «Zdeněk Adamec» erzählt der Nobelpreisträger von 2019 eine Geschichte über einen 18-Jährigen, der sich 2003 auf dem Wenzelsplatz in Prag verbrannte. Friederike Heller hat aus dem geschwätzigen Text eine Art Lehrstück für Schauspielschü-ler gemacht: Jeder Satz wird denkmalgross und bedeutungsschwanger präsentiert – seien es auch bloss acht Worte des Nichts.
Am Schluss ist man im Kreis gegangen – und will möglichst rasch hinaus in die Festspielnacht, merkt aber schnell, dass dies fern des Eröffnungsabends ein Begriff aus der Vergangenheit ist.
Salzburger Festspiele
Bis So, 30.8.
TV & Radio
Elektra
TV: Sa, 15.8., 20.15 3sat
Così fan tutte
TV: Sa, 15.8., 19.30 BR-Klassik
Radio: Sa, 15.8., 19.30 Ö1 & BR
Jedermann
TV: Sa, 22.8., 21.50 3sat
Ludwig van Beethoven
9. Sinfonie, Riccardo Muti
Wiener Philharmoniker
TV: Sa, 15.8., 11.35 ORF 2 &Mo, 17.8., 20.30 Arte
Wiener Philharmoniker Andris Nelsons
TV: So, 30.8., 16.55 Arte
Radio: So, 16.8., 11.03 Ö1 & Sa, 5.9., 20.05 BR
Weitere Übertragungstermine: www.salzburgerfestspiele.at/uebertragungen
CD-Box
100 Jahre
Salzburger Festspiele
58 CDs
(DG 2020)