kulturtipp: Clemens Hellsberg, wie würden Sie das Swiss Alps Classics charakterisieren?
Clemens Hellsberg: Bei unserem Festival steht nicht «nur» die Musik im Mittelpunkt. Es hat auch die Schönheit der Region um den St. Gotthard, die schon Goethe und Liszt begeisterte, zum Gegenstand: Die Nähe zur Natur schafft – im Gegensatz zur Anonymität der Grossstadt – eine Nähe zwischen Mitwirkenden und Publikum, die bisher von beiden Seiten bewusst genossen wurde.
Das Festival steht in Konkurrenz mit vielen Schweizer Alpen-, aber auch Mittellandfestivals: Angefangen vom Boswiler Sommer über das Musikdorf Ernen bis zum Verbierfestival. Wie unterscheidet man sich von diesen teilweise viele Jahrzehnte alten Musikwochen?
Viele der Mitwirkenden verbindet ihr Nahverhältnis zu Wien und der Musik aus Wien. Wir wollen aber auch verstärkt Schweizer Künstlerinnen und Künstler einbinden – wie bisher die Harfenistin Ursula Fatton, den in Küsnacht gebürtigen Dieter Flury, langjähriger Soloflötist der Wiener Philharmoniker, und den Geiger David Nebel.
In Andermatt gibt es parallel eine Konzertreihe des Unternehmers Samih Sawiris – jedenfalls vor und nach Corona. Ist das eine Konkurrenz oder tragen genau diese Konzerte zur Stärkung des Namens Swiss Alps Classics bei?
Ich lehne jeden Streit zwischen künstlerischen Institutionen ab und bekenne mich zum «Credo», dass Opern- und Konzerthäuser, Orchester und Museen nicht nur für sich, sondern für die gesamte Kulturszene Verantwortung tragen. Ich sehe deshalb in Mitbewerbern eine Stärkung des Namens.
Zu Beginn schien es, dass bei Ihrem Festival Stars wie Lang Lang, Olga Peretyatko und andere im Vordergrund stehen würden. Nun aber sind Sie von dieser Linie abgekehrt. Warum?
Nun, wir hatten mit Elena Bashkirova, den Schwestern Katia und Marielle Labèque, mit Marisol Montalvo, Igor Levit, Herbert Lippert oder mit Benjamin Schmid auch andere Stars zu Gast. Und wir werden uns weiterhin um eine Mischung aus grossen Namen, aufstrebenden Talenten und ungewöhnlichen Aufführungsorten bemühen.
Wie passen die Künstler des Festivals zusammen?
Durch die krassen Gegensätze: mit Marisol Montalvo und Maria Radutu haben wir zwei Künstlerinnen mit einer jeweils höchst individuellen One-Woman-Darbietung im Programm, und mit Emmanuel Tjeknavorian und meinem Sohn Benedikt zwei junge Männer, die sich der Spiritualität eines kirchlichen Raumes hingeben. Womit ich ein weiteres «Credo» offenlege: Es gibt unendlich viele Wege zu grosser Kunst.
Sehe ich es richtig, dass Sie in Zukunft eher ein Festival anstreben, das nicht auf einzelne eingeflogene Stars setzt, sondern Verbindungen schafft? Ein Künstler spielt solo, dann im Duo oder vielleicht im Quartett?
Es berührt mich, dass Sie diese Intention als solche anerkennen. Und ich ersuche Sie, dies nicht als Floskel aufzufassen, sondern als Ausdruck meiner Bewegung über Ihre Frage.
Dieses Jahr spielt gar das Swiss Alps Chamber Ensemble? Wer spielt da mit?
Die ursprüngliche Idee war der Aufbau eines Ensembles, das aus Mitgliedern europäischer Spitzenorchester sowie Wiener und Schweizer Musikern besteht. Dazu ist es noch nicht im gewünschten Mass gekommen: In Corona-Zeiten konzentrierten wir uns aus probentechnischen Gründen auf Angehörige österreichischer Orchester.
Das Festival entstand zusammen mit dem neuen Konzertsaal. Nun aber dehnt man sich aus, wird zum Gotthard-, ja zum Vierwaldstättersee-Festival. Ist diese Dezentralisierung Konzept oder Zufall?
Als mir Michael Reichel seinerzeit Bilder von Andermatt und Umgebung vorlegte, wusste ich sofort: Der Kristallsaal im Museum Sasso San Gottardo müsste ein wunderbarer Aufführungsort sein! Und wir haben gleich 2017 in diesem beinahe märchenhaft-verwunschenen Raum mit Isabel Karajan die «Conte Fantastique» von André Caplet gespielt. Auch die Idee der Familie Reichel, in der Mittelstation Nätschen zu konzertieren, entsprang dem Gedanken, die gesamte Region um den St. Gotthard, dessen Bedeutung und Mystik weit über die Schweiz hinausreicht, einzubeziehen.
Da man die Fühler nach Disentis oder Vitznau ausstreckt: Wäre auch Luzern, ja das KKL, als Konzertort eine Option?
Die Klosterkirche von Disentis war immer Gegenstand unserer Überlegungen. Nun bin ich sehr dankbar, dass wir nach deren Renovierung in diesem herrlichen Raum auftreten dürfen – mit einem Programm, das dem spirituellen Ambiente geschuldet ist. Luzern ist für mich ein besonderer Ort: Ich habe miterlebt, dass die Wiener Philharmoniker zum permanenten Gastorchester bei den damaligen Internationalen Musikfestwochen wurden, habe mit ihnen das letzte Konzert im alten Kunsthaus gespielt und bin (vor dem Brand und nach der Restaurierung) jedes Jahr über die Kapellbrücke gegangen, um Tafel für Tafel zu lesen – ein Ritual, das ich ebenso vermisse wie den Konzertsaal, dieses Resultat der kongenialen Arbeit von Jean Nouvel und Russell Johnson. Im KKL aufzutreten, ist sicher ein Traum; aber dies ist eine Schweizer Entscheidung, die mit der Familie Reichel zu treffen ist.
Ich behaupte mal, dass in den Hotels von Andermatt eher ein unterhaltungsfreudiges Sport-denn ein Kulturpublikum zu Gast ist. Muss man darauf bei der Programmierung Rücksicht nehmen?
In Wagners Meisterwerk «Die Meistersinger von Nürnberg» (das er ja in Tribschen vollendete) heisst es: «Der Kunst droht allweil Fall und Schmach, läuft sie der Gunst des Volkes nach.» Ich glaube daran, dass wir verpflichtet sind, das Publikum zu fordern. Daher bin ich auch voll Zuversicht, dass die «Sportregion Andermatt/St. Gotthard» einmal zu einer «Sport- und Kunstregion» wird.
Clemens Hellsberg
Clemens Hellsberg wurde 1952 in Linz geboren und studierte in Wien Geige. 1976 wurde er beim Orches-ter der Wiener Staatsoper angestellt, 1980 nahmen ihn die Wiener Philharmoniker auf. Von 1997 bis 2014 war er als Nachfolger von Werner Resel deren Vorstand, 2016 ging er in Pension. 2017 wurde er künstlerischer Leiter der Swiss Alps Classics in Andermatt.
Das Festival 2021
2017 gründete die österreichische Familie Reichel die Swiss Alps Classics. Die fünfte Ausgabe steht unter dem Motto «Variationen zum Thema Musik» und bietet vier Veranstaltungen. Spezielle Themenabende bieten Pianistin Maria Radutu und Sopranistin Marisol Montalvo. Dazwischen steht ein geistliches Konzert mit Dirigent Emmanuel Tjeknavorian. Ein Abend der «Lang Lang International Music Foundation» bietet zwei jungen Talenten eine Auftrittsmöglichkeit.
Swiss Alps Classics
Mi, 2.6.–Sa, 5.6.
www.swissalpsclassics.ch