Warum? Auf diese Frage hat Paavo Järvi nur gewartet. Genüsslich cool sagt der neue Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich: «Weil ich Fan von Olivier Messiaen bin. Das ist grosse Musik, die viel zu wenig gespielt wird. Die meisten Menschen kennen bloss ‹L’Ascension›. Wir bringen nun eine kleine Sammlung von Meisterwerken auf CD heraus. Ich habe keine ungemein tiefgründige philosophische Erklärung dafür, aber diese Musik ist einfach toll.»
Das Zürcher Publikum überraschen
Doch der 57-Jährige weiss auch, dass die Ausgangsfrage nicht lautete: Warum spielen Sie Messiaen ein, Musik des französischen Komponisten, der von 1908 bis 1992 lebte? Sondern: Warum spielen Sie zum Amtsantritt in Zürich Messiaen ein? Und folglich tönt die Fortsetzung seiner Erklärung pragmatisch: «Was passiert, wenn ein Dirigent zu einem deutschen oder Deutschschweizer Orchester kommt? Er spielt die Sinfonien von Mahler, Bruckner oder Brahms ein. Aber ich wollte es anders machen, eine Botschaft senden, das Zürcher Publikum überraschen.» Dass sich Messiaen nicht so einfach verkauft, ist ihm egal: «Die künstlerischen Aspekte sollten nicht vom Marketing gelenkt werden. Wir Künstler machen etwas, dann soll es jemand verkaufen. Das ist mein Weg. Die Franzosen nehmen Französisches auf? Die Russen Russisches? Nein, das will ich nicht!»
Somit begann am 2. Oktober 2019 im Prinzip nicht Järvis erstes, sondern sein zweites Zürcher Jahr, denn seine Agentur und das Tonhalle-Management ermöglichten es, dass der Este in der Saison 2018/2019 oft in Zürich dirigierte – und zu dieser Gelegenheit eben immer wieder Werke von Messiaen einstreute. Die Mikrofone hingen im Saal, der Keller der Tonhalle Maag wurde kurzum zu einem Tonstudio umgebaut.
Hier 15 Minuten, da zwei mal 10, dort 6 dazu: Kombiniert mit einer angriffigen Beethoven-Interpretation, erlebte man in der Tonhalle Maag elektrisierende Abende. Und kaum hatte im Oktober offiziell Järvis erste Saison begonnen, konnte man das Album präsentieren: Marketingtechnisch ein Coup. Typisch Paavo Järvi.
Musik voller Religion und Mystik
Bei allen Orchesterwogen und Streicherwirbeln: Dieser Messiaen tönt sehr kontrolliert, die straffe Dirigentenhand ist hörbar – und die Lust der Musiker, ihrem neuen Chef zu gefallen. Die einzelnen Register übertrumpfen sich geradezu. Und werden diese Werke so leidenschaftlich gespielt, erkennt jeder, wie wunderschön, wie schwelgerisch und sinnlich diese moderne Musik ist. Unglaublich feinsinnig, wie «Le Tombeau resplendissant» ausklingt. Prächtig, wie das Orchester in den «Offrandes oubliées», dieser sinfonischen Meditation, schwärmt und klagt und in der Seele bohrt, wie die Streicher erst flehen, dann in einen wahren Sturm geraten. Rettung kommt, denn diese Musik ist durchströmt von einem leuchtenden Positivismus, sie ist voller Religion und Mystik.
Auf dem Cover seiner Tonhalle-CD schreitet Järvi mit leichtem Schuhwerk voran. Nur zu! Bereits ist ein Järvi-Effekt zu spüren: Seine Konzerte sind bestens besucht. Das zusätzliche Geld ist dringend nötig, denn der Gang in die Ausweichspielstätte Maag bleibt ein finanzielles Risiko.
Paavo Järvi denkt schon weiter
Aber Kopf hoch: Das nächste Järvi-Projekt läuft schon. Die Saison begann zwar prächtig überfordernd mit finnischer Musik, und dabei war schön zu spüren, wie Pokerface Järvi mit «Kullervo» des Komponisten Jean Sibelius den Zürchern und Zürcherinnen sein Herz öffnete. Aber nach diesem abgründigen Klangbad zum Amtsantritt ging und geht sie mit einem kompletten Zyklus der Sinfonien von Peter Tschaikowsky weiter. Auch diesen Zyklus wird Alpha Classics aufnehmen – und im März 2021 anlässlich der Wiedereröffnung der Tonhalle veröffentlichen. Keine Vorschusslorbeeren, aber am 30. Oktober 2019 spielte man Tschaikowskys 6. Sinfonie – die bedeutungsschwere, tausendmal gespielte «Pathétique» – hinreissend. Die Mikrofone schienen diese überlegene Klarheit und straffe Ausgelassenheit gierig aufzusaugen.
Naturgemäss denkt ein Järvi schon weiter. Es gilt abzuwägen, denn er hat noch andere Orchester – in Bremen, in Tokio, vor kurzem noch in Paris – und überall nimmt er CDs auf. Auch berühmte Werke. Und vieles hat das Tonhalle-Orchester mit David Zinman bereits eingespielt. Gemach: Es sind zum Teil schöne CDs, aber nicht unersetzliche. Und die vermeintlich legendäre Beethoven-Einspielung ist schon 20 Jahre alt. Als Järvi im Herbst 2017 mit dem Orchester auf Tournee in China wiederholt Mahlers Fünfte aufführte, wusste er: Einst wird er mit diesem Orchester Mahler einspielen.
PS: Es gibt viele CDs mit Paavo Järvi, aber keinen Mahler-Zyklus.
Konzerte
Paavo Järvi – Tschaikowskys Zweite und Fünfte
Mi, 8.1.–Fr, 10.1., jew. 19.30
Tonhalle Maag Zürich
Mit dem Tonhalle-Orchester Zürich
CD
Messiaen
Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi
(Alpha 2019)