Khatia Buniatishvili, Sie sind letztes Jahr Mutter geworden. Ist nun die Zeit gekommen, um zurückzuschauen?
Khatia Buniatishvili: Nein, ich habe keine Zeit dazu. Ich will in Gedanken bei meinem Kind sein, muss ihm mein Leben und meine Zeit geben. Und wenn ich zurückschaue, dann heisst das doch, dass ich mit Nostalgie auf mein vergangenes Leben schaue. Das wäre nicht korrekt. Ich brauche dieses Leben zurzeit auch nicht, habe es in Reserve.
Rasten Ihre letzten zwölf Jahre nicht unheimlich schnell – viel zu schnell! – vorbei?
Erschreckend. Ich habe sehr viel erlebt – wirklich viel. Aber eben auch vieles in Bruchstücken, eklektisch. Es war ein riesiger Bogen von den schweren 1990erJahren in Georgien ohne Elektrizität und in Armut bis zu den grossen Erfolgen. Ich lebte in New York, Paris, London, Los Angeles – erlebte nicht nur die Klassikwelt, sondern auch völlig andere politische Systeme und Welten. Ich nahm alles sehr schnell auf. Manchmal denke ich: Hatte ich genügend Zeit, um das alles zu geniessen?
Und wie fällt die Antwort aus?
Wenn man jung ist, will man vorwärtskommen, immer weiter, möglichst schnell in die Zukunft gelangen. Auch wenn ich die Gegenwart intensiv lebte, war die Zukunft immer da. Und jetzt bin ich hier, im Stillstand, habe eine Tochter. Ich will, dass sie ein glückliches Leben haben wird – kein verrücktes, wie ich es habe. Sie soll alles auf der Welt sehen, aber ich hoffe, dass sie nicht erlebt, was ich als Kind erlebte, diese menschlichen und finanziellen Schwierigkeiten in der Zeit in Georgien.
Was war so schlimm in der Kindheit?
Meine Eltern hatten in Georgien gute und schlechte Zeiten. Aber das Leben war chaotisch, die Angst war immer präsent. Auch wenn meine Eltern dies vor uns Kindern verstecken wollten, fühlten wir das. Aber meine Tochter soll wissen, dass es nicht alle Menschen so leicht haben. Es ist wichtig, etwas zu bekommen – aber man muss der Gesellschaft auch etwas geben. Man muss immer Liebe suchen und Liebe geben.
Und was heisst das für Sie?
Meine Tochter muss auch wissen, dass ich, obwohl ich alles für sie gebe, eine freie Frau bin, und dass ich dafür gekämpft habe. Sie muss wissen, dass ich mein Künstlerinnenleben weiterführe. Sie muss wissen, dass das Publikum auf mich wartet, dass ich diesem Publikum meine Emotionen schenke. Das ist ein grosser Moment: Sie soll verstehen, wer ich bin, was es heisst, Künstlerin zu sein.
Was ist es, was Sie da auf der Bühne geben?
Man gibt alles – oder ich gebe alles. Ich gebe meine Emotionen und auch meine Zeit. Das wird weiterhin so sein. Ich habe mich auf der Bühne immer exponiert – ich bin dann nackt. Das ist schwierig.
Es war Ihre Wahl, über 100 Konzerte pro Jahr zu spielen.
Ja, nicht das Publikum, sondern der Künstler will das. Ich habe dabei als Mensch nichts verloren, aber ich habe mein Privatleben geopfert. Ich will das erklären. Ich bin meinem Publikum gefühlsmässig sehr verbunden. Ist jemand enttäuscht, wenn ich absage, dann ist das für mich ein Problem. Ich habe fast nie ein Konzert aufgrund meines Privatlebens annulliert. Verstehen Sie, was ich meine? Wenn ich krank war, ja …
… aber nicht, wenn jemand Geburtstag hatte.
Nein, ich meine etwas anderes: Wenn ich jemanden kennenlernte und Liebe ins Spiel kam, hätte diese Person mehr Zeit mit mir gebraucht und verdient. Aber ich musste reisen, musste weiter – das Publikum wartete auf mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Konzertsaal voll ist und ich annulliere, weil ich verliebt bin oder weil diese andere Person mich braucht, damit wir unsere Beziehung weiterentwickeln können. Das war unmöglich in meinem Kopf. Aber ich habe mich in diese Position gebracht.
Kamen Sie aus dieser Spirale, dieser Karriereleiter nach oben, nicht mehr hinaus?
Dank dem Baby habe ich es geschafft. Früher nicht. Nicht mit dem Kopf. Es gab die Musik, meine Familie und das Publikum.
Was ist die Musik?
Mein Leben. Andere Musiker haben vielleicht ein Leben, trennen den Beruf vom Leben, geben einen Teil davon in ihre Konzerte – bei mir war es eins. Mein Herz wurde bisweilen entzweigeschnitten, aber ich gab alles auf der Bühne. Mein Bezug zum Publikum ist derselbe, wie wenn ein Kind weint. Ich kann es nicht weinen lassen.
Ich verstehe es …
Gut! Manchmal muss ich meine Tochter auf mir schlafen lassen, weil sie sonst weint. Genauso war es mit meinem Publikum. Ich gab ihm alles. So bin ich auch in der Liebe mit anderen Menschen. Das verletzt bisweilen, wenn man sich mit dem Herzen so exponiert – und selbst ist man auch verwundbar. So war mein Leben. Nicht einfach, aber ich konnte nicht anders. Ich kann mein Baby nicht weinen lassen, ich schaffe es nicht.
Sie zeigen uns exemplarisch, wie ein modernes Künstlerinnenleben ausschaut: Es findet nicht nur im Konzertsaal statt, sondern auch auf Social Media.
Ja, aber ich bin ein Mensch aus einer alten Welt, aus dem 20. Jahrhundert.
Aber Sie zeigen sich doch als Mensch von heute, haben 330 000 Follower auf Facebook, 220 000 auf Instagram. Das spiegelt die Gegenwart.
Egal, wichtig ist, was ich sage, und das kommt von Proust und Dostojewski, meine Mentalität kommt von dort, nicht aus der Gegenwart, nicht aus dem Internet. Ich denke, dass das Internet zur Kommunikation dient, wir können besser wahrnehmen, was in der Welt geschieht. Aber die Menschen sind durch den Internetkonsum gleichgültiger geworden, das gefällt mir nicht. Was ich sage, denke und spiele – das zeigt einen Menschen von früheren Jahrhunderten. Das gilt auch für die Zukunft: Nicht die künstliche Intelligenz macht unser Leben besser, sondern die Seele, die Liebe. Zwar klingt das heute altmodisch, ist es aber nicht. Wir können uns nur retten, wenn wir Emotionen haben: Sie kommen aus der Vergangenheit – und weisen in die Zukunft. Emotionen retten unser Leben, ohne Emotionen sind wir tot. Oh, haben Sie gehört? Da weint jemand.
Konzerte
Khatia Buniatishvili mit Taiwan Philharmonic und Jun Märkl
Mi, 3.4., 19.30 Tonhalle Zürich
Do, 4.4., 19.30 Victoria Hall Genf
Mit der Schweiz verbunden
Khatia Buniatishvili wurde 1987 in der georgischen Stadt Batumi geboren. Mit 15 Jahren kam sie ans Konservatorium von Tiflis, dann wechselte sie nach Wien, schliesslich nach Paris. Sie trat in allen berühmten Sälen auf, spielte zahlreiche CDs ein.
Immer war sie verbunden mit der Schweiz: mit dem Verbier Festival, via Progetto Argerich mit Lugano, mit dem Gstaad Menuhin Festival, aber auch mit Luzern. 2010 spielte sie am Boswiler Sommer. Sie spricht Georgisch, Englisch, Französisch, Russisch und Deutsch, lebte lange in Paris, nun in der Schweiz.