Es war der Coup de Théâtre in der bildgewaltigen Neuinszenierung von Sebastian Baumgarten. Und es stellte sogar die apokalyptischen Weltuntergangs-Visionen in den Schatten, die der deutsche Regisseur für Händels Sicht auf den biblischen König Belsazar erfand: Hoch oben auf einem gigantischen Puma thronend hält der Perserkönig Cyrus Einzug im eroberten Babylon. Eine Pose wie geschaffen für den polnischen Countertenor. Wie er flink und agil auf das Monstrum kletterte, hatte die Attitüde einer Raubkatze.
Nur der Gesang darf nicht leiden
Auch sonst liess der bewegliche Künstler seine athletischen Fähigkeiten immer wieder aufblitzen. Kein Wunder, neben seiner Sängerkarriere bewegt sich Jakub Jozef Orlinski in der Breakdance-Szene: «Ich trainiere regelmässig und seriös und messe mich an Wettkämpfen mit anderen Tänzern und Gruppen. Das ist ein Ausgleich für mich, eine sportliche Herausforderung, die ich sehr liebe. Auf der Opernbühne kann das ja auch gut passen. Zum Beispiel in Cavallis ‹Erismena› in Aix-en-Provence, da gab es diesen Moment, in den eine solche Szene stimmig eingebaut werden konnte.» Aber er sagt auch, dass er sich nie darauf einlassen würde, wenn sein Gesang darunter zu leiden hätte. «Ich brauche die Zeit, mich zu konzentrieren, und die Zeit, mich davon zu erholen, denn natürlich sind solche Figuren körperliche Höchstleistungen.»
Der neue Paradiesvogel unter den Countertenören ist nicht nur körperlich topfit und sieht blendend aus, er kann auch singen: Seine Koloraturketten in Händels virtuosen Arien sind auch im horrendesten Tempo messerscharf, präzis, fokussiert und zielen in unwiderstehlicher Linienführung auf die Phrasen-Höhepunkte zu. Sein Countertenor klingt stets sauber und strahlend, wird in der Höhe nicht eng und bleibt in der Tiefe voll – und der Pole kann als besonderen Effekt sogar mit seiner Bruststimme spielen.
Kein Wunder, angefangen hat er als Bariton. Elf Jahre hat er in einem Männerchor gesungen. Eines Tages studierten sie in einem kleineren Ensemble Renaissancewerke ein, und die Frage kam auf: Wer singt die hohen Stimmen? «Jeder Mann kann in der Falsett-Lage singen, ich war der jüngste, und so war das entschieden», sagt Orlinski und ergänzt: «Ich habe Gefallen gefunden an dieser Stimmlage. Am Anfang war es hart: Niemand will einen Countertenor-Anfänger hören, es ist wie bei den Geigern in den ersten Monaten – einfach schrecklich.»
Aber der junge Pole blieb dran an diesem Fach, lernte, seine Stimme zu fokussieren, studierte Gesang erst in Warschau, dann an der renommierten Juilliard School in New York. Klar, denkt man, der will wegen der Breakdance-Szene nach New York. Aber das spielte für Orlinski keine Rolle: «Wenn du von Polen aus in die Welt gehst, warum nicht New York? Ich habe es nie bereut, und die Juilliard School war ein sehr hartes, aber auch sehr effizientes Training für mich als Sänger und als Musiker.»
Sein Youtube-Video wurde zum Hit
Den viralen Hit auf Youtube landete er aber schliesslich nicht mit einer unwiderstehlichen Breakdance-Figuren-Folge, sondern ganz klassisch mit einer Vivaldi-Arie. Wobei ganz klassisch war es nicht: Der junge Pole sang im südfranzösischen Sommer in Shorts und T-Shirt, weil er meinte, die Aufnahme sei bloss für das Radio. Und wirkte dabei so frisch und unverkrampft, dass das Video «Vedrò con mio diletto» von Millionen angeklickt wurde. «Natürlich kann ich in Shorts genauso gut singen wie im Anzug», sagt Orlinski lächelnd zu dieser Episode.
Ziemlich viel Aufsehen machte auch seine erste Warner-CD «Anima sacra» (2018) zusammen mit dem Ensemble Il Pomo d’oro unter der Leitung von Maxim Emelyanychev: fast alles Ersteinspielungen von geistlichen Werken des neapolitanischen Barock. Vor wenigen Wochen hat Orlinski nachgelegt mit denselben Musikern, aber diesmal mit barocken Opernarien, ebenfalls fast alles Ersteinspielungen. «Ich wollte nicht einfach Hits von Händel und Vivaldi aneinanderreihen, sondern etwas zeigen, was die Leute nicht kennen. Und es hat mir sehr viel Freude gemacht, in die Klangwelt jeder einzelnen Arie einzutauchen, ohne ein direktes Vorbild zu haben und diese Stücke für unsere Zeit wieder lebendig werden zu lassen.»
Unverwechselbar und eigenwillig
Was auffällt an Orlinskis Interpretationen, sind die Verzierungen, die zwar zu dieser Musik gehören, die er aber sehr eigenwillig gestaltet. «Darauf bin ich stolz», sagt er. «Ich mach das sehr bewusst und schreibe diese Verzierungen immer selber. Ich will einerseits unverwechselbar sein, aber andererseits nicht aus dem Stil fallen.» Mit «Facce d’Amore» tourt er diesen Winter durch Europas Hauptstädte, und auch Händel singt er nach Zürich bald wieder auf der Opernbühne: Im Februar ist er Tolomeo bei den Händel-Festspielen in Karlsruhe, und im April singt er in «Xerxes» in Rouen und Paris – diesmal allerdings nicht den Perserkönig, sondern dessen Widersacher Arsamene.
CD
Jakub Jozef Orlinski
Facce d’Amore
Arien von Cavalli, Händel, Bononcini u.a.
Mit dem Ensemble Il Pomo d’oro
Leitung: Maxim Emelyanychev (Warner 2019)
Oper
Belshazzar – Oratorium von Georg Friedrich Händel
Regie: Sebastian Baumgarten
Bis Fr, 6.12.
Opernhaus Zürich