20 Jahre lang prägten zwei Ausnahme-Künstler die Pfingstkonzerte im thurgauischen Ittingen: Heinz Holliger und András Schiff versammelten an diesem langen Wochenende ihre Künstlerfreunde und luden das Publikum zu einem Konzert-Reigen, der ähnlich wie die Stundengebete der früher hier lebenden Mönche vom Vormittag bis tief in die Nacht hinein die Klostergebäude bespielte. Ihr Markenzeichen war eine kluge Programm-Konzeption, die vielfältige und oft überraschende Bezüge zwischen Werken, Epochen, Themen und Komponisten herstellte.
Mit gesundem Misstrauen gegenüber Bequemem
Als sich Schiff und Holliger zurückzogen, wählte man in Ittingen nicht einfach einen Nachfolger, sondern lud jedes Jahr eine andere Musikerpersönlichkeit ein, diese Pfingstkonzerte zu gestalten. Graziella Contratto, Isabelle Faust oder Maurice Steger prägten das Festival mit jeweils sehr verschiedenen Konzepten und ihrer typischen musikalischen Entourage.
Dieses Jahr nun fiel die Wahl auf den Cellisten Nicolas Altstaedt. Obwohl erst 36 Jahre alt, gehört er zu den spannendsten Musikern in der Klassik-Welt, mit einem gesunden Misstrauen dem Mainstream und dem Bequemen gegenüber.
Das hat man nicht erst in Ittingen gemerkt. Schon als es darum ging, für den profilierten Gidon Kremer und dessen Festival im österreichischen Lockenhaus einen Nachfolger zu finden, fiel die Wahl auf den damals erst 30-jährigen Altstaedt. «Behinderungen im Konzertbetrieb gibt es genug. In Lockenhaus kann man sich ausleben», sagte er damals. «Mich interessiert nur, wer etwas zu sagen hat, alles andere ist egal. Lockenhaus ist ein offener Ort, an dem alles gemacht werden darf und gemacht werden soll.» So weht nun also der Geist des burgenländischen Festivals durch die Mauern der Klosteranlage in Ittingen.
J.S. Bach ins Zentrum gerückt
«Genesis» wählte sich Nicolas Altstaedt als Motto für die diesjährigen Pfingstkonzerte und stellte einen Komponisten ins Zentrum, der von Beginn an in den Programmen in Ittingen zentral war: J.S. Bach. Klar, dass seine Solosuiten für Cello ein Eckpfeiler in Altstaedts Programm sein werden.
Über die Ursprünge der Familie Bach, die in Ungarn liegen, rückte das Land und seine Musikkultur in den Fokus der Programme: etwa mit Joseph Haydns C-Dur Cellokonzert, das in Esterhazy und damit fast in Ungarn entstanden ist. Oder mit ungarischen Rhythmen in Schuberts Klaviermusik oder dem frühen Klavierquintett von Béla Bartók, das noch eher nach Dvorák oder Mahler klingt. Auch ganz neue Musik hat ihren Platz: Nicolas Altstaedt spielt das Cellokonzert «The Protecting Veil» des Briten John Tavener, das mit seiner spirituellen Atmosphäre bestens nach Ittingen passt. Und bei der Schweizer Komponistin Helena Winkelman gab Altstaedt gar ein Cellokonzert in Auftrag, das vom Titanen «Atlas» inspiriert ist und dem Solisten einiges an Gewicht auf die Schultern legen wird, wie die Komponistin gestand. Zusammen mit dem Cellokonzert von Haydn erklingt es am ersten Abend in der Remise der Kartause, kombiniert mit weiteren Stücken, die Beziehungen zwischen Haydn und Winkelman offenbaren.
Solche Programme mag Altstaedt: «Wenn man für sich selber Konzerte plant, möchte man stringente Programme. Ich glaube, dass es wenig Sinn macht, immer nur die Highlights aus verschiedenen Epochen zusammenzustellen.» Man müsse sich vielmehr fragen, was dies alles miteinander zu tun habe, und in dieser Hinsicht in die Tiefe gehen.
«Vor der Kunst sind alle gleich»
Wo auch immer Altstaedt auftritt, ist es ihm ein glühend ernsthaftes Anliegen, die Menschen für die klassische Musik zu gewinnen. «Ich möchte einfach, dass die Leute merken, dass Musik etwas Unentbehrliches ist und schlicht zu unserer Existenz gehört», sagt er. «Der Mensch ohne Kultur ist ein Nichts, weil es die Kultur, die Kunst ist, die ihn vom Barbarischen und vom Animalischen unterscheidet.» Nikolaus Harnoncourt bezeichnete Kunst als Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbinde. Altstaedt ist überzeugt, dass Musik und Kunst das Beste seien für die Menschheit, weil «wir vor der Kunst alle gleich sind». Deshalb ist für den Cellisten klar: «Vor einer Sinfonie von Beethoven sind wir per du, alle auf Augenhöhe vor einem solchen Monument.»
Ittinger Pfingstkonzerte
Fr, 7.6.–Mo, 10.6.
Kartause Ittingen TG
Programm: www.kartause.ch
Pfingstkonzerte – eine Auswahl
Uraufführung
Helena Winkelman
«Atlas» Cellokonzert
Fr, 7.6., 19.00
Im Rahmen von: Pfingstkonzert 1 – Joseph Haydn, Helena Winkelman
Johann Sebastian Bach
Suiten für Violoncello
Sa, 8.6., 12.15 Nicolas Altstaedt, Violoncello
Franz Schubert
Dmitrij Schostakowitsch
Fantasie C-Dur für Violine und Klavier D 934
Sinfonie Nr. 15
So, 9.6., 17.00
Johann Sebastian Bach
John Tavener
Suite für Violoncello solo
«The Protecting Veil»
Mo, 10.6.., 11.30
Lockenhaus Festival Strings Nicolas Altstaedt, Violoncello und Leitung