Wenn Nuria Rial twittert, dann tut sie das ein wenig anders als die breite Masse – und einen Twitter-Account braucht sie dazu nicht. «Baroque Twitter» heisst eine ihrer schönsten CDs, die sie zusammen mit dem Blockflötisten Maurice Steger eingespielt hat: virtuose oder zärtliche Duette für Stimme und Flöte, die in der Barockzeit überaus beliebt waren. Ein paar dieser musikalischen Zwitscher-partien brachte Nuria Rial (46)auch letztes Jahr mit, als sie zum ersten Mal in Ernen auftrat. Und begeisterte mit ihrer wandelbaren Stimme derart, dass man sie für diesen Sommer gleich wieder eingeladen hat. Kein Wunder, wo auch immer sie auftritt, bezaubert ihr klarer, reiner Sopran, von dem auch schon geschrieben wurde: Wenn Engel eine Stimme haben, dann eine wie Nuria Rial.
Als Kind von der Karriere eines Popstars geträumt
Nuria Rial ist in der Barockmusik zu Hause. Aber nicht zu hundert Prozent. Schliesslich wollte sie als Kind Popstar werden, bevor sie überhaupt eine Idee von einer Arie hatte. Ein bisschen davon ist geblieben: Lieder quer durch die Epochen singt sie, Jazz und Volksmusik, träumte auch mal vom Musical. Vor einem Jahr hat sie zusammen mit dem Gitarristen Edin Karamazov ein Album mit Liedern von Manuel de Falla und Enrique Granados aufgenommen. «Für eine Künstlerin ist es sehr spannend, sich weiterzuentwickeln und neue Ufer und Farben zu erforschen», findet Nuria Rial. «Das ist ein bisschen wie bei einem Schauspieler: Es wäre langweilig, immer nur denselben Typ spielen zu dürfen.»
Zur prägendsten Barock-Stimme geworden
Diese Vielseitigkeit erklärt sich auch aus Nuria Rials Ausbildung: Sie studierte nicht etwa an der Basler Schola Cantorum, der Kaderschmiede für alte Musik, sondern an der dortigen Musikakademie bei Kurt Widmer. «Ich habe Berio, Alban Berg und Britten gesungen», erzählt Nuria Rial. «Auch ein bisschen alte Musik, aber ich hatte viel zu wenig theoretisches Wissen dafür. Ich wollte meine Stimme offenhalten und nicht nur in eine Richtung gehen. Die alte Musik ist zu mir gekommen, und ich habe viel von den Spezialisten gelernt. Ich habe das nicht gesucht, es ist einfach passiert, wie alles in meinem Leben.»
Zum Beispiel, dass sie mit 23 Jahren überhaupt in Basel gelandet ist. Das lag an ihrem Gesangslehrer in Barcelona, der selber bei Kurt Widmer studiert hatte und sie zu ihm schickte: «Ich wollte überhaupt nicht weg von Spanien. Aber dann blieb ich ein Jahr in Basel, noch eines, und schliesslich bin ich hängen geblieben und habe sehr viel gelernt von ihm. Er hat mich gelehrt, nicht zu viel zu denken, sondern zu vertrauen, dass das, was man geprobt und geübt hat, im Ernstfall auch funktioniert.» So ist Nuria Rial geblieben in «diesem kleinen, gemütlichen Land» und erst vor sieben Jahren wieder nach Katalonien zurückgekehrt. Und obwohl sie sich mit Händen und Füssen gegen alle Schubladisierungen wehrte, ist sie eine der prägendsten und wichtigsten Barock-Stimmen geworden, singt an den grossen Festivals und mit den besten Ensembles, und ihre unterdessen über 30 Alben räumen reihenweise Preise ab.
So ist auch klar: In Ernen ist Nuria Rial Teil des Teams, das den barocken Abschnitt im bunten Sommer-Reigen des Musikdorfs betreut. Klaviermusik, Kammermusik, aber auch Jazz und Literatur prägen daneben den Kultursommer in Ernen. Die Barockwochen werden von zwei Frauen kuratiert: von der in Zürich lebenden Geigerin Ada Pesch, die das Opernhaus-Orchester und vor allem dessen Barock-Fraktion La Scintilla als Konzertmeisterin prägt. Und von der australischen Bratschistin Deirdre Dowling, die in Paris lebt und so ziemlich in allen Originalklang-Ensembles Europas mitgespielt hat, von Ton Koopman über Philippe Herreweghe bis Marc Minkowski. Sie seien verschiedene Persönlichkeiten, aber beide flexibel und pragmatisch, sagt Dowling über sich und ihre Partnerin. Die beiden fragen jeweils zuerst die Mitspieler, vor allem die Sänger, was sie gerne aufführen möchten. Dann schauen sie, was sie zu diesen Favoriten dazuprogrammieren möchten. «So haben wir motivierte Musiker, die mit Leidenschaft genau das spielen können, was sie auch wirklich wollen. Das ist ein grosser Spass und eine tiefe Befriedigung für alle, und ich glaube, dass sich das auch dem Publikum mitteilt», betont Dowling.
Klare Luft und eine grandiose Landschaft
«Positive Schwingungen stellen sich sogleich ein, es ist eine überaus beglückende Atmosphäre», sagt auch Nuria Rial über das Festival. Hinzu kommt die grandiose Gebirgslandschaft, die klare, reine Luft. Das lässt auch eine Frau nicht unberührt, die am Meer aufgewachsen ist und von sich sagt, dass sie ohne den Blick in die blaue Weite nicht leben könnte.
In dreien der fünf Barock-Konzerte singt Nuria Rial: einmal französisch, einmal italienisch und einmal Bach. Darum herum gibt es Concerti und Sonaten in wechselnden Besetzungen, im französischen Programm zum Beispiel jene verrückte Suite «Les Eléments» von Jean-Féry Rebel, deren «Chaos»-Abschnitt jede Grenze barocker Harmonik sprengt. Dass die meisten Menschen, die ihr in den Erner Konzerten zuhören, gerade Ferien haben, stört Nuria Rial kein bisschen: «Singen ist für mich nicht Arbeit, sondern Vergnügen. Und neben der Yoga-Matte werde ich auch die guten Schuhe mit einpacken.»
«Die Sonne scheint für alle»
Mit derselben Lockerheit und Offenheit schaut sie auch in die Zukunft: «Das Leben findet einen schliesslich doch immer am richtigen Ort. Ich singe aus Freude, und ich habe viel Glück gehabt. Ich bin nicht blind, ich sehe, was alles passiert in unserem Beruf.» Sie habe keine Eile, irgendwo hinzukommen. «Ich sage mir immer, die Sonne scheint für alle.» Könnte es sein, dass sie für Nuria Rial nicht doch ein bisschen heller scheint?
CD
Freundliches Glück, süsseste Liebe
Barocke Lieder und Duette
Nuria Rial, Jan Börner, Il Profondo
(Resonando 2021)
Nuria Rial & Edin Karamazov
Con Guitarra
Lieder von Manuel de Falla, Enrique Granados, Lorenzo Palomo
(Coviello 2020)
Festival
Musikdorf Ernen
Bis So, 12.9.
Barockwochen: So, 18.7.–Do, 29.7.
www.musikdorf.ch