«Auch als Chef muss ich nicht alles machen. Barockmusik oder Haydn überlasse ich gerne anderen.» Das sagte Krzysztof Urbanski schon bei seiner Präsentation als neuer Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters im September 2023.
Es ist die grosse romantische und neuere Sinfonik, die es dem Polen angetan hat. Bereits 2022, als er sich zum ersten Mal beim Berner Orchester vorstellte, setzte er die zehnte Sinfonie von Schostakowitsch aufs Programm. «Dmitri Schostakowitsch und ich, das ist eine lange Liebesgeschichte», sagte er zu dieser Wahl. «Er gehört zu meinen absoluten Lieblingskomponisten, vor allem, weil sich in seiner Musik so viele Schichten und Bedeutungsebenen finden lassen.»
Rhythmische Energie und grelle Kontraste
Krzysztof Urbanski mag das grosse Orchester, aber er ist keiner, der mit jugendlichem Übermut die Klangwellen im Fortissimo anrauschen lässt. So wie er spricht – eher leise, konzentriert und überlegt –, so klingen auch seine Interpretationen. Schostakowitschs Zehnte liebt er vor allem deshalb, weil er sie für die intimste von dessen 15 grossen Sinfonien hält. Aber er kann auch anders: Rhythmische Energie und grelle Kontraste gehören zu seinen Markenzeichen.
Zur Schweiz hat der 41-jährige Dirigent eine enge Beziehung. Seit er an den Comersee gezogen ist, hat er praktisch alle grossen Schweizer Sinfonieorchester geleitet. Er wolle das Fliegen minimieren, sagt er dazu, und die Schweiz biete eine reiche Orchesterlandschaft. Besonders eng wurde die Beziehung zum Orchestra della Svizzera italiana in Lugano, das ihn nach kurzer Zeit des Kennenlernens gleich zu seinem ständigen Gastdirigenten ernannte. Eine Freundschaft, die auf Gegenseitigkeit beruht, wie Urbanski betont: «Es gab vom ersten Augenblick an ein gegenseitiges Verstehen.»
Anders als viele Kollegen stammt Urbanski nicht aus einer Musikerfamilie. «Ich bin mit Popmusik aufgewachsen, klassische Musik habe ich erst spät entdeckt.» Mozart und eine Stereokassette mit Werken von Beethoven zum Film «Immortal Beloved» standen am Anfang seiner Liebe zur Klassik. «Und irgendwann hörte ich zufällig ‹Don Juan› von Richard Strauss und konnte nicht glauben, dass dies ein Sinfonieorchester war. Alle diese Farben, das faszinierte mich. Später hörte ich erstmals Strawinskys ‹Le Sacre du Printemps› – und war hin und weg. Das ist für mich vielleicht das wichtigste Kunstwerk, das je geschaffen wurde.»
Chefpositionen auf der ganzen Welt
Obwohl Krzysztof Urbanski sehr viel Energie in seine Interpretationen steckt, sieht er Dirigieren nicht als Leistungssport: «Körperlich ist es nicht wirklich anspruchsvoll, aber geistig sehr. Manchmal, wenn ich mitten im Probenprozess stecke, kann ich mich auf nichts anderes konzentrieren. In der Nacht kann ich nicht schlafen. In diesem Sinne ist Dirigieren ungesund, aber wie viele ungesunde Dinge macht es auch sehr süchtig. Und ich kann mir mein Leben ohne Dirigieren einfach nicht vorstellen.»
So wuchs er heran zur profilier- ten Dirigentenpersönlichkeit, die gleichermassen durch akribische Arbeit wie energiegeladene und charismatische Interpretationen aufgefallen ist. Erfahrungen sammelte er mit Chefpositionen in Indianapolis und Trondheim, als Gastdirigent in Tokyo und Hamburg, aber auch bei den Berliner und Münchner Philharmonikern, dem London Symphony Or-
chestra, in Chicago, New York oder San Francisco. Sechs CDs mit dem NDR-Elbphilharmo- nie-Orchester sind bei Alpha erschienen, darunter Lieblings- werke von ihm wie «Le Sacre du Printemps» oder Dvoráks «Sinfonie aus der Neuen Welt», die er nächste Saison auch in Bern dirigieren wird.
Spontane Sympathie mit dem Orchester in Bern
Jetzt also Bern. Auch hier war es quasi Liebe auf den ersten Blick. Schon eine Woche nach dem ersten Kennenlernen erhielt er das Angebot für die vakante Chefposition. Das sei unüblich, sagt Urbanski, aber auch von seiner Seite sei spontan Sympathie mit dem Orchester entstanden. Er sehe grosses Potenzial und hohe Ambitionen, «und ich bin bis- her sehr gut damit gefahren, spontan meinem Instinkt zu vertrauen». Zudem reizten ihn die Stadt, die Natur und die Berge, die ihn schon als Kind fasziniert hätten. Geboren wurde er 1982 in der Kleinstadt Pabianice, «dort wo Polen am flachsten ist».
Für die kommende Saison hat sich Urbanski einiges vorgenommen: Sechs Programme dirigiert der Chef. Mit dem kanadischen Pianisten Jan Li- siecki wird er an zwei Tagen hintereinander alle fünf Klavierkonzerte von Beethoven aufführen. Es gibt ein reines Schostakowitsch-Programm, aus seiner Heimat Polen bringt er folkloristisch angehauchte Moderne von Lutoslawski und die dritte Sinfonie von Henryk Górecki mit, die mit ihrer reli- giösen Schlichtheit sogar die Pop-Charts stürmte. Aber auch die grossen Romantiker Johannes Brahms, Robert Schumann, Peter Tschaikowsky oder Antonín Dvorák stehen auf dem Spielplan.
«Zu viele Kompromisse bei der Oper»
In der Oper jedoch, da wird man den Polen vorerst nicht zu hören bekommen. Das liegt einerseits daran, dass in Bern mit Nicholas Carter ein eigener Chefdirigent engagiert ist. Andererseits an seiner ausgeprägten Abneigung gegenüber diesem Genre. Man müsse zu viele Kompromisse eingehen im Opernbetrieb, sagt er: «Es gibt so viele Aspekte, die in einer Opernproduktion zusammenspielen müssen, und die Musik hat sich unglücklicherweise oft höheren Zwängen unterzuordnen. Das ist für mich falsch, weil die Musik die Essenz der Oper ausmacht.» Ganz zugemacht hat er diese Türe aber noch nicht: 2025 wird er am Opernhaus Zürich eine Produktion von Beethovens «Fidelio» leiten.
Zuerst wird er nun aber im Casino in Bern zu sehen sein, in Mussorgskys gross besetztem Orchesterwerk «Bilder einer Ausstellung», in Pendereckis «Threnos» und im Klavierkonzert von Edvard Grieg mit Pianistin Alice Sara Ott.