Wer jetzt noch streamt, ist von gestern. Und so mutete es leicht eigenartig an, als Lucerne Festival Ende Mai ankündigte, dass man an der Ausarbeitung neuer digitaler Formate sei, bereits im Juni würde man damit starten. Und in der zweiten Hälfte August soll gar ein «neues, kurzes Festival» stattfinden, Veranstaltungen im KKL, auf dem Europaplatz und an verschiedenen anderen Spielorten in der Stadt Luzern würden anstehen.
Trotz finanziellem Risiko die Chance packen
Schön und gut, mehr davon weiss man nicht. Zuerst nämlich standen da Absage um Absage. Verbier, dann Luzern und Gstaad, schliesslich der «Settembre Musical» in Montreux: Alle vier grossen Klassikfestivals der Schweiz wollten sich durch den Sommer schweigen, nahmen vorlieb mit Kurzarbeit, retteten vorzeitig, was zu retten war, ins nächste Jahr. Zu gross sind ihre internationalen Abhängigkeiten, zu belastend der Fokus auf grosse, nicht corona-kompatible Orchester. Vor allem war da die Angst, viel mehr Geld zu verlieren als zu gewinnen.
Ganz anders die kleinen Festivals. Als der Bundesrat am 26. Mai sein neues Schutzkonzept bekannt gab und erlaubte, dass wieder 300 Leute bei genügend Abstand in einem Saal sein dürfen, mussten sie nur noch die Schublade öffnen.
Doch Vorsicht: Bei diesem kleinen Musikseelenjubel gilt es innezuhalten und Francesco Walter, dem Intendanten des Musikdorfs Ernen, zuzuhören: «Eigentlich wäre es für uns viel einfacher gewesen, Kurzarbeit anzumelden und ein Gesuch für die Ausfallentschädigung einzureichen. Jetzt gehen wir finanziell ein Risiko ein, aber wir sind es den Musikern und Musikerinnen und dem Publikum schuldig. Wir sehen es auch als Chance, um Neues auszuprobieren.»
Moderne Technik, Kunst und Virologie in Charmey
Die Krise ist auch eine Chance. Das «Festival du Lied» hätte es 2020 gar nicht gegeben, da man in Fribourg jeweils alterniert mit dem Internationalen Festival für geistliche Musik. Als dieses aber abgesagt wurde, gab sich die Mezzosopranistin und Festivalleiterin Marie-Claude Chappuis einen Ruck, rief ihre Künstlerfreunde und -freundinnen an und stellte spontan eine Art Festival du Lied auf die Beine. Doch Festival ist untertrieben: Ab 25. Juli wird man im idyllischen Charmey an sechs Abenden auf einem grossen Parkplatz ein Klassik-Drive-in veranstalten. Moderne Technik, Kunst und Virologie sind vereint – das vermeintlich kleine feine Festival haut auf die Pauke. Rund um das 2000-Seelen-Dorf wird es touristische Angebote geben, der Bär dank Corona tanzen.
Und so darf man fragen, ob im Corona-Sommer die Stunde der kleinen Festivals gekommen ist? Die Schweizer Hotels melden jedenfalls seit vier Wochen steil aufsteigende Buchungszahlen. Rund 140 000 Karten wären in Luzern, Verbier, Gstaad und Montreux (70 000, 35 000, 25 000 und 10 000) verkauft worden – viel mehr, als alle kleinen Schweizer Festivals zusammen anbieten.
Freiluftkonzerte auf der Waldbühne im Engadin
Dem Wirtschaftsmann und Sportevent-Spezialisten Michael Reichel, der seit 2017 die «Andermatt Swiss Alps Classics» auf der Festivalkarte etablieren will, leuchten die Augen: «Es gibt sicher viele Klassik-Fans, die nun froh sind, dass es Veranstaltungen gibt wie unser Festival.» Reichel wird zumindest an zwei Abenden in Vitznau und Andermatt spielen, ein dritter, überraschender Ort ist noch in Planung.
Jan Schultsz, Intendant des Engadin Festivals, glaubt auch, dass man von den Absagen der Grossen profitiert. Vor allem, weil Künstler auch mal andere Festivals bespielen können. Ihm ist jetzt ein Coup gelungen, auf den er jahrelang warten musste: Khatia Buniatishvili sagte ab, Marta Argerich zu: Sie bestreitet die Ouvertüre des Festivals, Grigory Sokolov das Finale.
Francesco Walter in Ernen ist betreffend eines Zuschauerzustroms verhalten optimistisch. Sein Programm hat er teilweise angepasst, die Orchesterkonzerte gestrichen. In der Kirche hätte es jeweils Platz für 390 Personen. Mit der 2-Meter-Regel können nur 75 Leute rein. Viele Konzerte werden doppelt und ohne Pause geführt, um 17 und um 20 Uhr. Musiker, die man wieder ausladen musste, bekommen eine Entschädigung. Das ist auch dank vieler Spenden der Vereinsmitglieder möglich. «Diese Solidarität und Verbundenheit mit dem Musikdorf ist einzigartig. Auch alle Musiker und Musikerinnen haben spontan zugesagt, pro Tag zweimal aufzutreten – notabene ohne zusätzliche Gagenforderung», so Walter.
Auch Jan Schultsz spürt Sympathie – und viel Energie in sich selbst. Statt in den kleinen Kirchen spielt man in der Reithalle St. Moritz sowie im Rondo Pontresina, dem Kultur- und Kongresszentrum. Dort wird Weltstar Grigory Sokolov sein Rezital gleich zweimal geben. Das Abschlusskonzert findet auf der Waldbühne Pontresina statt. «Das Engadin ist wie geschaffen für Freiluftkonzerte!», jubelt Schultsz.
Verlust lässt sich pro Meter Abstand rechnen
In Graubünden wird aber auch in Klosters und Davos gespielt. Fast unglaublich, was das 2017 gegründete Festival Klosters Music für die neue Infrastruktur alles bewegt und umstellt. Warum tun die sich das an?, fragt aber nur, wer nie den Geist dieser vor Enthusiasmus strotzender Festivals gespürt hat. In Klosters rechnet man mit etwa gleichbleibenden Besucherzahlen. Auch beim Davos Festival macht sich Stiftungsratspräsident Matthias von Orelli wegen der Karten weniger Sorgen, werden doch die Konzerte mit mehr Platzmöglichkeiten in den Fokus gestellt. Statt der 3500 Zuschauer erwartet man 2500.
Sobald die Zuschauerzahlen grösser sind, zeigen sich deutliche Einbussen. Schon in Ernen. Dorthin kamen im Sommer 2019 über 6700 Besucher, 2020 werden es bei der 2-Meter-Regel maximal 2750 Eintritte sein. Immerhin: Alle Geldgeber haben zugesichert, die gesprochenen Beiträge zu überweisen. «Im schlimmsten Fall fehlen jedoch Einnahmen von 125 000 Franken bei zwei Meter und von 75 000 Franken bei einem Meter Abstand», sagt Francesco Walter. Ein grauenvoller Satz, den noch vor ein paar Monaten kein Mensch auf der Welt verstanden hätte.
Schweizer Sommerfestivals. Eine Auswahl
Musikdorf Ernen VS Fr, 3.7.–So, 30.8.
www.musikdorf.ch
Musikfestwoche Meiringen BE Fr, 3.7.–Sa, 11.7.
www.musikfestwoche-meiringen.ch
Klosters Music Fr, 31.7.–So, 9.8.
www.klosters-music.ch
Engadin Festival (St. Moritz GR & Pontresina GR) Di, 28.7.–Di, 11.8.
www.engadinfestival.ch
Drive in/Festival du Lied, Charmey FR Sa, 25.7.–Fr, 31.7.
www.drive-in-festival.com
Andermatt Swiss Alps Classics (Andermatt UR & Vitznau LU) Fr, 21.8.,
Vitznau; Sa, 22.8., Andermatt (weiteres Programm folgt)
www.swissalpsclassics.ch
Grand Tour Barockmusik (Graubünden, Uri & Liechtenstein) Fr, 31.7.–So, 16.8.
www.swissbaroque.com
Zermatt Music Festival & Academy Mo, 7.9.–So, 20.9.
www.zermatt.ch