Spektakuläre neue Konzertsäle: Los Angeles, Paris, Lugano oder Krakau machen heute Klassik-Diskussionen von Eingeweihten zum Small Talk einer breiten Bevölkerung. So geschehen in Hamburg, wo der lokale Musikkritiker im «Hamburger Abendblatt» in seinem 100-Tage-Elbphilharmonie-Résumé begeistert berichtet: «In den letzten Wochen wurde überall in der Stadt über das Thema Konzertsaal-Akustik diskutiert, mit einer Eindringlichkeit, als ginge es mal wieder um die Frage, wie zweitklassig der HSV gespielt hat.»
Mehr als 1,6 Millionen Menschen besuchten seit letztem November die Elbphilharmonie, 250 000 besuchten seit dem 11. Januar die Konzerte. Alles fiebert dem Vorverkaufsbeginn für Einzelkarten für die kommende Saison am 12. Juni entgegen.
Vergleichbar mit Paris. Noch vor fünf Jahren besuchte dort kaum ein Tourist ein klassisches Konzert. Heute ist das anders: Die von Architekt Jean Nouvel 2015 entworfene Philharmonie in der Cité de la Musique im Nordosten von Paris zog im ersten Jahr 1,2 Millionen Besucher an. Seit Ende April strömt man nun in die neu eröffnete Seine Musicale auf der Insel Seguin – sie wird ähnliche Zahlen wie die Philharmonie in der Cité de la Musique erreichen.
Spektakuläre Eröffnung mit besonderen Effekten
Vollmundig versprach die Politik bei der Eröffnung der Seine Musicale: «Das ist die Zukunft.» Der Eröffnungsabend war kurioserweise deshalb modern, weil sein Programm alles andere als schmeichelnd populär war. Auswahl der Werke, Interpretation und die Eigenheit des neuen Saales – auch seine wunderbare Akustik – waren miteinander verbunden.
Zehn unterschiedlich grosse Bildschirme hinter dem Orchester sandten Signale aus, welche die musikalische Botschaft erweiterten. Überflüssig? Immerhin verbanden sich die Bilder eindringlich mit der Musik und brannten sich einem ein. Und wer bewundert nicht gerne Pianistenhände? Das mit Kunstnebel angereicherte Lichtspiel zu Ausschnitten aus Carl Maria von Webers «Freischütz» war spektakulär übertrieben: Wer an bisweilen hübsch beleuchtete KKL-Konzerte mit dämmrig rotem Orchesterrund denkt, vergleicht einen 1.-August-Lampion mit einem Feuerwerk.
Effekthascherisch? Eher mitreissend. Vor dem Konzert wurde eine Broschüre verteilt. «Erraten Sie das Programm!» Wenige Worte, eine Karikatur – und dann sollte die Musik sprechen. Nach dem Konzert wurde das «echte» Programm mit zeitgemäss gestalteten Informationen nachgereicht.
Jeans und Anzug, Highheels und Sneakers
Zu verspielt? Anders eben als im 20. Jahrhundert. Wer heute etwas über Schuberts 5. Sinfonie wissen will, braucht dank Smartphone kein Programmheft mehr. Geld will man für ein solches Aufsätzchen schon gar nicht ausgeben.
Ist es im KKL Luzern denkbar, dass im Konzertsaal die Wiener Philharmoniker auftreten und im Luzerner Saal nebenan gleichzeitig ein DJ aufspielt? In der Seine Musicale geschieht auch das, und das Publikum vermischte sich sogar – jedenfalls optisch: Jeans und dunkle Anzüge, Highheels und Sneakers sah man sowohl im klassischen Konzert im Auditorium als auch nebenan in der grossen Halle, wo DJ The Avener bejubelt wurde.
Doch dieser grosse Saal, die Grande Seine, mit 4000 Sitz- und 2000 Stehplätzen ist nicht allein für Pop und Rock reserviert. Im September wird dort Mozarts «Requiem» als Ballett gezeigt; tanzen wird das legendäre Pferdeballett von Bartabas.
Dank tiefer Kartenpreise stehen die Türen der Seine Musicale jedem offen, auch den Jungen: Laurence Equilbey, Chefdirigentin des Insula Orchestra, verkündete stolz: «Wir haben 300 Anmeldungen für den Klub ‹Place aux Jeunes› erhalten – innerhalb von nur drei Wochen!» Equilbey und ihr packendes Orchester sind im Saal zu Hause, dürfen hier viel wagen. Wo noch vor kurzem eine Industriewüste lag, erstrahlt nun dank dem Konzertsaal die Zukunft. Wie bei der Elbphilharmonie in Hamburg heisst es hier: Täglich geöffnet. Man darf auch nur Kaffee trinken.
Die Klassik erlebt dank diesen Sälen denselben Boom wie die Kunstwelt vor 20 Jahren, als in London die Tate Modern oder in Bilbao Museen mit Signalwirkung gebaut wurden: Sie gaben der Kunst einen Schub und belebten zudem vernachlässigte Quartiere, wenn nicht ganze Städte neu.
Die Konzertsäle in Paris und Zürich
La Seine Musicale Paris
Der japanische Stararchitekt Shigeru Ban liess sich von der Form der Seine-Insel Seguin verführen und entwarf das 350 Meter lange Kulturzentrum als Schiff: Das 45 Meter hohe Segel besteht aus den Solarzellen. Das Oberdeck des grossen Saals wurde zum Park. Das Kulturzentrum ist für Besucher täglich geöffnet. Die 170 Millionen Euro teure Anlage liegt im Westen von Paris und ist mit der Metro, Linie 9 bis Pont de Sèvres, erreichbar. Der Architekt Shigeru Ban baute das Centre Pompidou-Metz und in Zürich das Tamedia-Haus.
Karten und Informationen
www.laseinemusicale.com
www.elbphilharmonie.de
Tonhalle Zürich
Die Stadt Zürich kann sich ebenfalls auf einen zukunftsweisenden Musikort freuen. Ab August 2020 wird die Tonhalle am See in neuem Glanz erstrahlen. Die Gebäudeteile zusammen mit dem Kongresshaus werden lichter und gleichzeitig flexibler. Die Akustik, schon heute wegweisend, soll noch ausgeklügelter werden. Bis dahin erwarten die Tonhalle-Besucher und das Orchester ein Abenteuer. Diese und die nächste Saison werden sie die Erlebniswelt der Maag-Halle im Westen der Stadt kennenlernen. In der Eventhalle wurde ein attraktiver Konzertsaal aus Holz gebaut, der den Ansprüchen des Publikums genügen wird.
www.tonhalle-orchester.ch