Giuseppe Verdis Oper «Giovanna d’Arco», die im Zentrum der St. Galler Festspiele steht, hat eine hochpolitische Vor- und Begleitgeschichte – und wird in St. Gallen auch eine hochpolitische Deutung erfahren. Sie erzählt von einem Mädchen, das im frühen 15. Jahrhundert im Vogesendorf Domrémy-la-Pucelle lebt. Es kann weder lesen noch schreiben, glaubt aber, es müsse in göttlichem Auftrag dem von den Engländern bedrängten König zu Hilfe eilen. Diese Jeanne d’Arc schafft das Undenkbare, wird dann aber von den Engländern gefangen genommen und endet als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen. Ein intensives Nachleben beginnt: Vor allem im 19. Jahrhundert wenden sich Politik wie Kultur gern der einzigartigen Frauenfigur zu. Unter ihnen: Giuseppe Verdi und Peter Tschaikowsky.
Verdi anstelle von Tschaikowsky
Es sind sehr politische Gründe, die Giuseppe Verdi (1813–1901) in seinen frühen Opern leiten. Historische Stoffe dienen nicht nur dazu, im von fremden Mächten und den Päpsten beherrschten Italien die Zensur auszutricksen. Sondern auch, um politische Botschaften unterzubringen. So läuft es bei «Nabucco», bei «I Lombardi alla prima crociata», bei «Attila» – und eben auch bei der 1845 entstandenen «Giovanna d’Arco».
Den dazu passenden musikalischen Stil hat 1836 im politischen Exil der Autor Giuseppe Mazzini in seiner in Grenchen verfassten «Filosofia della musica» entworfen. Er forderte eine Oper, die das Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Bestimmung im Chor findet. Italien muss die Fremdherrschaft abschütteln, muss Demokratie werden. Die Demokratie: Das ist der Chor. Lauscht man in «Giovanna d’Arco» den Chorstücken, für die in St. Gallen nicht weniger als vier Chöre im Einsatz sind, so vernimmt man diese politische Botschaft deutlich. Und fragt sich: Was bedeutet sie in unserer so ganz anderen Welt? Oder ist diese Welt gar nicht so anders?
Das hat sich auch Barbora Horáková Joly gefragt, die auf dem St. Galler Klosterhof Regie führt. Hier hätte sie ursprünglich Tschaikowskys «Johanna von Orléans» inszenieren sollen. Bis dann die Theaterleitung zwei Monate vor der Premiere entschieden hat: Eine russische Oper ist angesichts des Kriegs in der Ukraine zu heikel an diesem Ort, noch dazu als Open-Air-Produktion, deren Proben für jedermann zugänglich sind. Der Rest der Festspiele bleibt unverändert: Das Tanzstück «Gegen den Strom» von Dimo Kirilov Milev in der Kathedrale ebenso wie das Konzertprogramm unter anderem mit Meisterwerken der russischen Musiktradition für die Orgel.
Die Bühnenlandschaft bleibt dieselbe
Barbora Horáková Joly lebt in Biel, doch geboren wurde sie in Prag, wo sie noch Jahre der dunklen Sowjetzeit erlebte. Und wo ihre politisch unangepassten Eltern ihr das Gefühl mit auf den Weg gegeben haben, «dass man die Welt kennenlernen und sich für andere interessieren sollte». Und: «Dass man nicht einfach anderen Meinungen folgen dürfe, sondern sich ein eigenes Bild machen müsse.»
Im Glauben und in der Schlacht hat Jeanne d’Arc ihre Bestimmung gefunden. Als «Kriegsoper» beschreibt Barbora Horáková Joly denn Verdis Werk, zu dem Susanne Gschwender eine düstere Trümmerlandschaft als Bühne entworfen hat, die gegenüber der ursprünglichen, für die Tschaikowsky-Oper konzipierten Bühne nur wenige Änderungen erfahren hat. «Der grösste Eingriff am Bühnenkonzept ist der Wegfall des ursprünglich geplanten Livevideos, das aufgrund der unterschiedlichen Dramaturgien der zwei Stücke keine Funktion mehr hatte», sagt Opernchef Jan Henric Bogen. Inmitten dieser Trümmer spielt sich eine kurze Liebesaffäre zwischen Carlo, dem französischen König, und Giovanna ab. Und hier entfaltet sich jene Vater-Tochter-Beziehung, die im emotionalen Zentrum steht. Denn Giacomo, dieser Vater, verrät seine Tochter an die Engländer, weil er sie für eine Hexe hält. Ihre Fremdartigkeit ist ihm tief suspekt, auch ihr Rückzug in den Wald, wo Visionen sie heimsuchen und wo Engel und Dämonen zu ihr sprechen. «Wir zeigen den Vater als einen fast fanatisch gläubigen Mann, der Angst bekommt vor seinem eigenen Werk», sagt Barbora Horáková Joly. «Sie spürt etwas, was er nie gespürt hat, und das macht ihm Angst. Und Angst macht ihm auch zu sehen, welche Stärke Giovanna entwickelt, die fast noch ein Kind ist.» Deshalb wird neben der grossen noch eine kleine Johanna auf der Bühne zu sehen sein.
Jeanne d’Arc und das Heldentum
Was die Regisseurin zuallererst an Jeanne d’Arc fasziniert, ist ihr Idealismus. Tiefgreifende Veränderungen der Gesellschaft gehen zu allen Zeiten von idealistisch gesinnten jungen Menschen aus. Doch liegt in diesem Bedürfnis, «die Welt gut zu machen», wie Horáková Joly sagt, auch eine Gefahr – die Gefahr eines Fanatismus, der edle gesellschaftliche Träume korrumpiert.
Auch davon handelt ihre Inszenierung. «Wir werden sehr klar sein in unseren Aussagen», sagt die Regisseurin und bringt noch ein weiteres Element ins Gespräch: Das Heldentum, das diese Oper in seiner kriegerischen Ausprägung feiert. Doch Heldinnen gibt es immer, auch heute. Weshalb sie Frauen aus St. Gallen nach ihren Heldentaten gefragt hat. Auf die Antworten darf man gespannt sein.
Giovanna d’Arco
Premiere: Fr, 24.6., 20.30 Klosterhof St. Gallen
Weitere Aufführungen: www.stgaller-festspiele.ch