Vor einem Jahr beim Lucerne Festival war alles prima. «Prima Donna» hiess das viel diskutierte Thema; elf Dirigentinnen traten am Festival auf. Dieses Jahr standen gerade mal zwei Frauen auf dem Podium. Willkommen in der Realität! Die Dirigentin Speranza Scappucci lässt solcherlei Pessimismus kalt. «Nun gut», sagt die 44-jährige Römerin nüchtern, «aber es gibt immer mehr Dirigentinnen. Viel mehr Frauen studieren und werden zu einer normalen Konkurrenz.» Nachgefragt, warum es in der Gesamtheit noch wenige Frauen seien, sagt sie: «Es fehlte der Mut, sich da hineinzuwerfen: In den 1970ern meinte man, nur Männer könnten dirigieren. Meine Nichten denken nicht mehr so.»
Den ersten Auftritt bravourös gemeistert
Von der Idee, dass sie in 10 oder 20 Jahren als erste Frau das Wiener Neujahrskonzert dirigieren könnte, meint sie milde strahlend: «Das ist ein schöner Gedanke – warum nicht? Alles ist möglich, man darf nie an Barrieren denken. Als ich an der Wiener Staatsoper als Korrepetitorin arbeitete, dachte ich keine Sekunde daran, dass ich dereinst im Orchestergraben vor den Wiener Philharmonikern stehen würde.»
Ohne eine einzige Probe, so wie das in Wien für Gastdirigenten normal ist, trat Scappucci im November 2016 in die Höhle der Löwen. Ein eigenartiges Gefühl, gesteht sie, man wisse nicht, was geschehen werde. «Aber dann hob ich den Finger – und sie reagierten.» Herausfordernd ist dieser Auftritt vor allem, da ein Neuling wieder eingeladen wird, wenn er seine Sache gut macht. Aber eben: Was kann er – oder sie – denn «gut» machen, wenn nicht zusammen geprobt wird? «Es gilt, mit dem Orchester eine Energie zu erzeugen, und die war vom ersten Takt an da. Oder ich hatte jedenfalls das Gefühl, dass es so war», erzählt sie. «Das war an jedem Abend so, auch wenn jedes Mal andere Musiker im Rund sassen, dieses Orchester rotiert ja dauernd.» Aber die Musiker merken, ob ein Dirigent etwas zu sagen hat. Man könne nicht mit vielen Orchestern arbeiten, ohne zu proben – aber mit den Wienern schon. In Zürich wird sie er-neut ein Werk eines italienischen Komponisten dirigieren, Gaetano Donizettis «La fille du régiment».
2012 wurde zum entscheidenden Jahr
Zürich ist ihr eine Art Schicksalsstadt geworden, wenn auch anders als erwartet. Als Intendant Andreas Homoki und Chefdirigent Fabio Luisi Scappucci anfragten, ob sie 2012 nach Zürich kommen würde, um Studienleiterin zu werden. Bis dahin war sie Repetitorin gewesen, bereitete also die Sänger am Klavier auf die Opernproduktionen vor. Aber im Januar 2012 debütierte Scappucci als Dirigentin und erkannte: «Das ist mein Weg!» Sie hatte da «dummerweise» bereits einen Vertrag mit Zürich in der Tasche. «Ich bin dem Opernhaus dankbar, dass man meine innere Zerrissenheit verstand und mich, die am Scheideweg stand, ziehen liess.»
Von Yale aus in die Welt hinaus
Siehe da, ein Märchen nahm seinen Lauf: Die fürs Publikum unsichtbare Repetitorin wurde zur bejubelten Dirigentin. Doch Scappucci betont, dass man für die Musik dauernd arbeiten müsse – üben, studieren, Praxis erlangen, wieder üben. Sie beschäftigt sich mit Musik, seit sie vier Jahre alt war, studierte in Rom und an der New Yorker Juilliard School, wurde Opernfan und lernte fünf Sprachen.
«Viele Sänger fragten mich, ob ich mit ihnen arbeiten würde, so schien es mir natürlich, Repetitorin zu werden.» Maestro Collaboratore, wie man in Italien sagt. Dann aber rief die Universität Yale an und fragte, ob sie Mozarts «Così fan tutte» dirigieren würde, und sie sagte mutig zu, fühlte sich bereit, weil sie die ganzen Jahre so viel gearbeitet hatte.
Von 2005 bis 2012 war Scappucci für grosse Dirigenten wie etwa Riccardo Muti tätig, war bei den Proben dabei, dirigierte den Chor. Doch wer denkt, ihre weitere Laufbahn sei selbstverständlich, vergisst, dass sie nie ein Orchester leitete.
Der Erfolg in Yale war gross, alsbald kamen andere Orchester, andere Opernhäuser, Wien, Rom, Amsterdam und Zürich. «Das ist eine grosse Ehre», sagt sie und verweist darauf, dass sie früher ja auch mit den berühmtesten Sängern der Welt gearbeitet habe, etwa mit Anna Netrebko. «Die Musik bleibt dieselbe: Sie ist im Kopf, geht über in die Geste. Ohne Passion und ohne Charisma kann man nicht Dirigentin sein; das kann man nicht lernen.»
Der Wunsch nach mehr war nicht da
Trotz der Erfolgswelle, des Glücks und der Freude, die sie in den berühmten Häusern erlebt, betont Speranza Scappucci, dass sie auch in ihrer Zeit im Hintergrund zufrieden war. «Ich hatte tolle Aufträge, arbeitete an den besten Häusern mit den berühmtesten Dirigenten. Der Wunsch, selbst mit dem Orchester zu arbeiten, war nicht von Anfang an da. «Ich war nicht am Warten. Es geschah plötzlich, wenn auch spät. Ich bin die Antithese des Wunderkindes.»
CDs mit Speranza Scappucci
Mozart
Marina Rebeka singt Opernarien
Royal Liverpool Philharmonic Orchestra
(Warner 2013).
Saimur Pirgu:Il mio canto Verdi, Puccini u.a.
Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino
(Opus Arte 2015).
Oper
Gaetano Donizetti: La fille du régiment
Sa, 16.12., 20.00
Di, 19.12., 19.00
Fr, 22.12., 19.00
Opernhaus Zürich