Geldsorgen, zwei gestrichene Festivals, das Gerücht um einen #MeToo-Vorfall, ein Machtkampf zwischen Stiftungsratspräsident und Intendant, ein Mobbing-Prozess, Corona, kurz und schlecht: Seit 2017 ist das Lucerne Festival von kleineren in grössere Katastrophen geschlittert. Darüber konnten 2019 die glanzvoll gefeierte Eröffnung, die Grossartigkeiten auf dem Podium, die weltweiten Kritikerhymnen und das wirtschaftliche Glanzresultat nicht mehr hinwegtäuschen.
Dann aber folgte ein Schnitt: Der Stiftungsratspräsident wurde frühzeitig ersetzt und die Position von Intendant Michael Haefliger (*1961) dadurch gestärkt, obwohl er schon seit 21 Jahren im Amt ist. Kein Wunder, zeigte Haefliger bei der Pressekonferenz zur Präsentation des Sommerprogramms im Februar ein neues Gesicht – ein entspanntes.
Haefliger braucht die Sympathie des Publikums
Jetzt ist allerdings nicht nur ihm das Lachen vergangen. Corona hat einen Trumpf ausgestochen: Anfang April hätte der dirigierende Heilsbringer Teodor Currentzis Luzern in Aufruhr versetzen und mit einem viertägigen Festival die Werbetrommel fürs Sommerfestival rühren sollen: «Also sprach Teodor» war eine Broschüre überschrieben. Drei von vier Abenden waren rasch ausverkauft. Alles Makulatur.
Was nun? Haefliger muss bis zu seinem Vertragsende 2025 noch einmal zeigen, dass er einen kulturellen Leuchtturm anführt, der weltweit gesehen werden will. Und auch wenn das nun wie das Credo eines Börsenhändlers tönt, der sagt, wir müssten langfristig denken: Im Sommer muss er, wenn denn gespielt wird, nochmals die Stadt packen. Er braucht die Sympathien der Konzertgänger, Sponsoren und der Politiker: Sie füllen die Kasse. Der Ruf nach mehr Subventionen wird nun sicher lauter werden. Momentan betragen sie nur fünf Prozent des 25-Millionen-Budgets.
Bei der Pressekonferenz im Februar war aus jeder Ankündigung herauszuhören: «Wir sind am Puls der Zeit, bringen auf die Bühne, was momentan angesagt ist.» Jetzt fehlen nur noch Greta im Publikum und veganer Champagner an der KKL-Bar. Spass beiseite: Es gibt einige Punkte, die zeigen, dass die Erneuerungen und Besonderheiten des normalen Festivals auch Schwächen offenbaren.
Trumpf «Beethoven» verschenkt
Wenn das Festival ankündigt, dass man als Exklusivität im Beethoven-Jahr 2020 in 30 Sinfoniekonzerten alle neun Sinfonien Beethovens aufführen werde, ist das so überraschend, wie wenn ein Schwan über den Luzerner Schwanenplatz watschelt. Und dass es sieben Orchester sind, die Beethoven spielen, zeichnet die Festivaldramaturgie nicht aus, sondern zeigt viel eher ihre Trägheit. Man nimmt, was kommt.
Das Festival landete 2016 mit dem Festivalthema «PrimaDonna» einen Coup, portierte elf Dirigentinnen (wenn auch fast keine für die grossen Sinfoniekonzerte) – und konnte in den Folgejahren jeweils bis zu drei Frauen hinter dem Pult präsentieren. Immerhin. Umso peinlicher ist es, dass man für die Ankündigungen im Sommer 2020 den abgelutschten Begriff «Frauen-Power» braucht. Luzern hätte es nicht nötig. Die Engländerin Rebecca Saunders (*1967) ist «Composer-in-Residence», wird im Sommer in grossen und kleinen Konzerten oft gespielt. Das ist gut so. Beim «Artiste Etoile» wirkte die Nominierung von Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla bemüht. «Wirkte», da die Dirigentin schwanger ist und die Konzerte abgesagt hat. Keine Tragödie, denn üblicherweise erhält der «Artiste Etoile» an fünf Abenden viel Freiraum, um sich zu präsentieren. Gražinytė-Tyla hätte gerade mal zwei Sinfoniekonzerte mit ihrem Stammorchester gehabt, die sie sowieso dirigiert hätte. Später wäre ein Late-Night-Konzert mit arabischer Instrumentalmusik und Liedern im Nebensaal gefolgt.
Gewiss, eine Dirigentin als «Artiste Etoile» ist schwieriger einzusetzen als eine Pianistin, aber um ihren Sonderstatus zu unterstreichen, hätte Gražinytė-Tyla ja auch heute das Festspielorchester, morgen das Academy-Orchester dirigieren können.
Geigerin Kopatchinskaja spielt mit Pianist Levit
Erstaunlich auch die schwache Präsenz von Riccardo Chailly, Chefdirigent des Lucerne Festival Orchestra (LFO) und als Nachfolger von Claudio Abbado das Aushängeschild des Festivals: Er dirigiert im Sommer nur drei Konzerte. Dabei bleibt es 2020, denn der Chefdirigent wird im Herbst mit seinem Orchester nicht auf Tournee gehen: Lange war schon abgemacht, dass Chailly mit dem Scala-Orchester kurz vorher schon in Japan sein wird. Zwei so grosse Tourneen sind für ihn zu viel.
Analog zum abgesagten Currentzis-Fest dieser Tage soll im Herbst das Mini-Festival «Beethoven Farewell» stattfinden – der Ersatz für das aus finanziellen Gründen gestrichene Pianofestival. Im Unterschied zum für Sponsoren vermeintlich langweiligen Pianofestival sind das auf den ersten Blick originelle Musiktage. Hier kommt es zum spektakulären Aufeinandertreffen von Geigerin Patricia Kopatchinskaja und Pianist Igor Levit: Künstler, die in der Klassikwelt durch Spiel, Wort und Tweets für grosses Aufsehen sorgen. Sie spielen in den drei Tagen einmal zusammen, dann bestreiten sie je zwei Abende allein. Kopatchinskaja bietet zwei originelle Programme. Levit hingegen beendet an den zwei KKL-Abenden seinen Beethoven-Zyklus – zwei Konzerte, wie sie am eingesparten Pianofestival über Jahre üblich waren. Lucerne Festival verkauft hier alten Wein in neuen Schläuchen.
Doch so schlecht sind die Aussichten nicht, das Publikum aber wurde in den letzten 20 Jahren nun mal sehr verwöhnt. Ideen gibt es viele. Und eines ist gewiss: Nach Corona wird eine ungeheure Lust auf Konzerte herrschen.
CDs
Mahler
Symphony No. 6
Currentzis, Musica Aeterna
(Sony 2018)
Beethoven
Sämtliche Klaviersonaten
Igor Levit
9 CDs
(Sony 2019)
DVD
Ravel
Diverse Werke
Lucerne Festival Orchestra
Riccardo Chailly (Aufnahme: Luzern, August 2018)
(Naxos 2019)