Es war einmal ein Geigen-Wunderkind, das von Dirigent Claudio Abbado gefördert wurde, sehr bald eine schöne Liste an hoch gelobten Einspielungen vorweisen konnte und mit bemerkenswerter Gelassenheit das Rampenlicht zu geniessen schien. Alles vorgezeichnet also für eine grosse Klassikkarriere. Und dann verschwand das Wunderkind von den Konzertbühnen. Kometenhafter Aufstieg, sangund klangloses Verschwinden – keine neue Geschichte.
Bei David Garrett war es dann doch ein wenig anders, wie sich zeigen sollte: Mit 19, mitten im Höhenflug seiner jungen Karriere, machte der Sohn eines deutschen Juristen und einer US-amerikanischen Primaballerina eine Zäsur. Er entschloss sich, aus seinem vorgezeichneten Lebensweg und fremdbestimmten Umfeld als klassischer Konzertgeiger auszubre- chen und zog nach New York. Er besuchte die Geigenklasse von Itzhak Perlman und immatrikulierte sich an der Juilliard School für die Fächer Musikwissenschaft und Komposition.
Der Plan von Crossover-Konzerten entsteht
Damit feilte er nicht nur an seinem Geigen-Handwerk und stellte es auf eine umfassendere musiktheoretische Basis, sondern realisierte noch etwas anderes: Er hatte sich immer gefragt, warum seine gleichaltrigen Kollegen so gar kein Interesse für das klassische Konzert aufbringen konnten. Wenn er ihnen aber diese Musik im lockeren Rahmen vorspielte, waren sie begeistert. Und verlangten von ihm auch immer wieder Jazz und Pop auf der Geige. So entstand der Plan, mit Crossover-Konzerten die Möglichkeiten der Geige vor ein neues Publikum zu tragen und es vielleicht sogar für die klassischen Werke zu begeistern.
Als schnellster Geiger im Guinness-Buch
Seit seiner Rückkehr auf die Bühnen verfolgte Garrett konsequent den Weg, Crossover-Repertoire mit Rockstar-Attitüde und Werke der klassischen Geigenliteratur einem breiten Publikum zu präsentieren. Der Erfolg gab ihm recht. Zwar rümpfte die etablierte Klassikszene zuerst die Nase. Aber mit der Pose eines Rockstars und einem Lächeln, das jede Schwiegermutter bezaubert, fand Garrett Zugang zu allen Publikumsschichten. Und er bewies Showtalent: 66,56 Sekunden brauchte er 2008 in einer britischen Fernsehshow für den «Hummelflug» von Rimski-Korsakow und stand damit eine Zeit lang als «schnellster Geiger» im Guinness-Buch der Rekorde.
Klar, Tempo allein gilt in der Klassik nun gerade nicht als Qualitätskriterium, sondern als handwerkliche Grundvoraussetzung. Aber was man zugestehen muss: Geige spielen, das kann er wirklich, dieser David Garrett, und er unterscheidet sich damit von etlichen Sternchen, die mit Sex-Appeal, Show-Talent oder Ulk-Attitüden die Bühnen der Welt für kurze Zeit in Atem halten konnten.
Als aber David Garrett 2017 in der ganzen Welt traditionelle Auftritte mit dem Violinkonzert von Tschaikowsky ankündigte, da ploppte doch ein Fragezeichen auf: Kann er das noch? Und ja, er konnte! Nicht dass er dieses populäre Geigenkonzert völlig neu oder anders gespielt hätte: Er tat es für viele seiner Fans wohl eher unerwartet brav. Sauber, sicher und souverän, genau das Gegenteil also, was man vom rebellischen Rockgeiger erwartet hätte.
Die Antithese zum Rebellen Nigel Kennedy
Er sei eigentlich ein Fan der sehr klassischen Interpretation von romantischen Violinkonzerten, sagte er damals im Interview: «Ich glaube, das Konzert von Tschaikowsky enthält schon genug Emotionen – auch ohne Girlanden und überzogene Vibratos.» Aber er bewies damit endgültig sein nach wie vor hohes Klassikformat. Und seine Seriosität: David Garrett übt täglich, er hält seine Termine ein, er pflegt Tugenden wie Fleiss und Anstand. Und ist damit quasi die Antithese zum Rebellen Nigel Kennedy, auch der ein begnadeter Geiger, der geniale Momente auf die Bühne brachte, aber ebenso oft durch Exzesse, Launen und Abstürze auffiel.
«Iconic» taufte David Garrett sein neustes Programm, das zusammen mit seiner Autobiografie im letzten November erschien. Es enthält tatsächlich die Ikonen des Geigenrepertoires: nicht die grossen Konzerte, sondern in teilweise neuen Arrangements die virtuosen oder lyrischen Kabinettstückchen, mit denen die grossen Geiger in allen Epochen eben auch zu brillieren wussten.
So wie Garrett sie jetzt mit 42 Jahren spielt, sind sie mehr als Schnulzen-Nummern. Sie sind eine Hommage an die grossen Namen der virtuosen Violine von Fritz Kreisler über Jascha Heifetz und Nathan Milstein bis zu Itzhak Perlman.
Konzerte
David Garrett am Interlaken Classics
Fr/Sa, 7.4./8.4., jew. 19.30
Congress Kursaal Interlaken BE
Buch
David Garrett - Wenn ihr wüsstet – Die Autobiografie
368 Seiten (Heyne 2022)
Album
David Garrett - Iconic
Musik von Bach, Kreisler, Fauré, Gluck, Vivaldi u. a.
(Deutsche Grammophon 2022)
Weltklasse in Interlaken
Neben David Garrett spielen beim Klassikfestival im Berner Oberland der Weltklasse-Trompeter Reinhold Friedrich, der Harfenist Joel von Lerber, die Pianistin Olga Scheps und natürlich der Intendant, der Geiger Zakhar Bron. Der junge Schweizer Cellist Samuel Niederhauser ist Solist im Dvorák-Cellokonzert, und im Traditionshotel Giessbach spielt ein Streichsextett Brahms und Schubert. Es gibt Programme für Kinder und ein Musiktheater von Jugendlichen, und wie jedes Jahr zeigen die Teilnehmer der Meisterkurse in den verschiedensten Besetzungen ihr Können. Interlaken Classics
So, 2.4.–So, 23.4.
www.interlaken-classics.ch