Das Ohr ist ein heikles Organ – gerne lässt es sich ablenken, ja täuschen. Vor allem vom Auge. Die Gestik des Dirigenten wirkt via Orchester direkt auf das Gehör. Doch wie entscheidend ist es, ob der Dirigent Lackschuhe oder Punkstiefel trägt?
Wer es als banal empfindet, es gar als Niederlage der Kunst ansieht, darüber zu diskutieren, der sollte sich bei einem Konzert der Pianistin Yuja Wang (*1987) beim Publikum umhören. Es wird nicht nur über den rasenden Zugabenreigen gesprochen, sondern vor allem über das Kleid, das meist nicht länger als eine Krawatte breit ist. Empörung und Verzückung halten sich dann meist die Waage. Die Zürcher Tonhalle-Gesellschaft erhielt nach einem Wang-Abend aber auch schon Protestbriefe. Die US-Chinesin setzt ihre Konzertkleider bewusst ein: «Das ist wie eine Uniform, eine soziale. Privat bin ich nie so aufgetakelt.» Es ist eine risikoreiche Wahl, kommt doch dauernd die Frage auf, warum sie solche Kleider nötig habe, ja ob denn ihre Kunst allein nicht ausreiche.
«Ich habe keine Angst, sexy zu sein»
Auch die Pianistin Khatia Buniatishvili (*1987) muss immer wieder hören, sie übertünche mit ihrem Auftreten ihr Spiel. Bisweilen kommt der Vorwurf, sie sei ferngesteuert von der Plattenfirma und den Managern. Die CD-Industrie mag gewissen Künstlern in Sachen Stilvorgaben übel mitgespielt haben, bei Buniatishvili ist es aber so, dass die vermeintlich bösen Sony-Verantwortlichen ihr auch schon nahelegten, etwas zurückhaltender in der Kleiderwahl zu sein. Darauf angesprochen sagt sie entwaffnend: «Ich habe keine Angst, sexy zu sein. Mein Stil ist feminin, das bin ganz ein-fach ich. Dahinter steckt kein Konzept.»
Ungemach wegen der Kleider droht nicht nur Frauen. Der Cellist Mischa Maisky (*1948) fiel mit seinen unkonventionell farbigen und luftigen Konzertkleidern auf – und wurde prompt dafür kritisiert. Doch er war ganz einfach auf der Suche nach etwas modern Bequemem, in dem man nicht zu stark schwitzte. Beim japanischen Designer Issey Miyake wurde er fündig.
Ein Künstler in einem neutralen schwarzen Anzug oder eine Frau in einer «Hosen-Pullover-Uniform» wirkt seriöser. Die französische Pianistin Hélène Grimaud (*1969) sagt uns etwa damit: «Hört her, es geht nicht um mich, bloss um die Musik!»
Barfuss, schulterfrei oder tief dekolletiert
Ähnlich bescheiden inszeniert sich Geigerin Isabelle Faust, die sich so auch von den «Geigen-Girlies» – gut aussehenden Junggeigerinnen, die ab 2000 im Dutzend von den CD-Firmen vermarktet wurden – klug distanzierte. Überstrahlt wurden alle von Anne-Sophie Mutter (*1963), die mit ihren schulterfreien Kleidern seit 35 Jahren für Aufsehen sorgt. Sie müsse die Geige spüren, sagt sie, Pianisten würden ja auch nicht mit Handschuhen spielen. Ihre schabernackfreudige Kollegin Patricia Kopatchinskaja (*1977) hingegen sucht den Bodenkontakt, spielt seit eh und je barfuss.
Ob barfuss, schulterfrei oder tief dekolletiert: Es ist kein Skandal, sondern ein Glück fürs Publikum. Künstler, die den Blick auf die Bühne fesseln können, lenken letztlich auch das Ohr auf die Musik. Ein Konzert ist nun einmal ein synästhetischer Genuss. Spielen allein reicht bei keinem. Darum wäre es auch falsch, so natürlich, wie es nur geht, auf die Bühne zu treten. Nur ein Genie wie der Pianist Friedrich Gulda (1930–2000) versuchte es in den 1980ern und hüpfte splitternackt ans Klavier.
Aus Protest in T-Shirt, Jeans und Stiefeln
Tatsächlich können sich Künstler auch falsch anziehen. Wer ein Konzert des Geigenpädagogen Zakhar Bron besucht, wird Kinder und Jugendliche in Kleidern sehen, die das Klischee einer toten Klassikwelt abbilden: Aufgebauschte lange Röcke, wilde Rüschen, bunte Farben – als ob Werte des 19. ins 21. Jahrhundert transportiert werden müssten.
Vor nicht allzu langer Zeit bedeutete die Kleidung auch Protest. Geigen-Punk Nigel Kennedy (*1956) legte in den 1980ern bald einmal seinen Konzertanzug weg, trat in Jeans und Lederjacke auf. Abgelöst wurde er von David Garrett (*1980). Das einstige Wunderkind spielt auch in normalen Konzertsälen in T-Shirt, Jackett, Jeans und Stiefeln. Schön und gut, würde er mit dem schweren Schuhwerk nicht den Takt schlagen.
Noch vor den Diskussionen um bunte oder kurze Kleider gab im Konzertsaal vor bald 40 Jahren eine neue Lockerheit zu reden. Die Spezialisten der Alte-Musik-Szene behielten ihre legere Kleidung an. Sie war auch soziales Statement: Wir sind die Armen, ihr dort in den Fracks und schulterlosen Abendkleidern die Reichen, von Plattenfirmen und Sub-ventionen Verwöhnten. Doch mit dem Slogan «Lasst uns einfach Musik machen!» war es bei den meisten schnell vorbei. Selbst Nikolaus Harnoncourt (1929–2016) trug anstatt Rollkragenpullover bald Frack und dirigierte gar das Wiener Neujahrskonzert. Für den «Radetzky-Marsch» schlüpfte er sogar in eine Johann-Strauss-Tracht.
Schade. Mit dem Frack konserviert der Betrieb nämlich sein verstaubtes Image. Vom Frack tragenden Orchester zum belächelten touristischen Orchester in Samtrock und mit Mozart-Perücken ist der Weg nicht mehr weit. Nichts Komischeres, als wenn 100 Pinguine hinter der vor Jugendlichkeit strotzenden Yuja Wang sitzen.
Da die klassische Musikszene traditionsbewusst ist, wäre es bisweilen für junge Musiker nicht unklug, sich äusserlich von ihr zu distanzieren. Der Dirigent Teodor Currentzis beherrscht das bestens. Mit Totenkopf-Pantoffeln, wilder Frisur und aufgeknöpftem Hemd wurde er geradezu zum «Marilyn Manson der Klassik». Luzern und Salzburg öffneten ihm die Tore, die Masse jubelt.
CDs
Khatia Buniatishvili
Schubert
(Sony 2019)
Yuja Wang, John Adams
Must The Devil Have
All The Good Tunes?
(DG 2020)
Teodor Currentzis
Beethoven
Symphony No. 5
(Sony 2020)