Alle denken an die Zukunft des Lucerne Festival Orchestra und überlegen, wer es auch noch dirigieren könnte. Die ganz Verwegenen fragen sich, wer die Nachfolge von Chefdirigent Riccardo Chailly antreten könnte. Ein solcher Wechsel ist nicht aus der Luft gegriffen, zumal Chaillys Vertrag bis 2026 dauert und ab Herbst 2025 mit Sebastian Nordmann ein neuer Intendant das Festival in die Zukunft führen will.
Zu Beginn in Luzern umstritten
Vorderhand dirigiert Chailly wieder in Luzern, nachdem er 2023 krankheitshalber ausgefallen war. Und so ist auch Intendant Michael Haefliger nicht nur für die kommenden Konzerte guten Mutes, sondern auch für die Zeit darüber hinaus, geht das Lucerne Festival Orchestra doch im Herbst nach einer Pause von fünf Jahren wieder auf Tournee. In Paris und Hamburg wird Chailly das Orchester leiten.
Es ist ein Neuanfang – mit dem alten Chef. Für Haefliger war diese Wahl keine Frage: «Chailly hat Singularität, ist nicht permanent mit allen Orchestern der Welt unterwegs, sondern arbeitet an der Mailänder Scala und in Luzern. Das macht ihn attraktiv – und er steht für Interpretationen auf allerhöchstem Niveau.» Chailly habe enorm viel mit dem Orchester entwickelt und ein neues Repertoire erarbeitet.
Doch Haefliger sagt auch, dass die Zusammenarbeit des inzwischen 71jährigen Chailly mit dem Lucerne Festival Orchestra anfangs nicht so einfach war: «Zuerst war er bei einigen Musikerinnen und Musikern umstritten, worauf ich ihn ansprach.» Haefliger war beeindruckt, wie offen Chailly die Situation anpackte: Er ging auf das Orchester zu, redete mit den Musikern. Mit Erfolg, mittlerweile sagt Haefliger: «Das Orchester liebt ihn. Man hat sich gefunden.»
Die Unsicherheit wich gegenseitigem Vertrauen
Das war nicht der einfachste Weg. Claudio Abbado habe die Gründungsrolle innegehabt und das Lucerne Festival Orchestra zum Abbado-Orchester geformt, Chailly lasse das Orchester stärker aufleben. Und so sei es mittlerweile möglich, dass es locker und souverän mit anderen Dirigenten auftrete. «Bei Abbado an einen anderen Dirigenten zu denken, war ein Sündenfall», sagt Haefliger lächelnd. «Chailly verstand, dass das Orchester nicht dieses Gefühl von ‹lebenslänglich› haben möchte, sondern die Freiheit ausleben will.»
Mitte Juni in Mailand darauf angesprochen, dass Haefliger von Schwierigkeiten zu Beginn seiner Luzerner Ära sprach, reagiert Riccardo Chailly deutlich: «Die Schwierigkeiten waren, wenn schon, meine Bedenken, meine Unsicherheit. Wenn Sie ein so grosses Projekt in Ihrem Leben starten, können Sie nie sicher sein, ob es erfolgreich wird. Es brauchte Zeit, uns kennenzulernen. Wenn Sie fühlen, dass Sie dem Orchester vertrauen und das Orchester Ihnen, ist das fantastisch, und der Ermüdungsprozess vermindert sich um 50 Prozent.»
Und so schwärmt Chailly vom Lucerne Festival Orchestra, nennt es eines der grossartigsten Orchester der Welt, betont aber, dass es eben nur drei Wochen im Sommer, eine Woche im Frühling und dann noch im Herbst auf Tournee existiert.
«Als ich an die Scala kam, an diesen wunderbaren, aber nicht einfachen Ort, konnten wir sehr schnell Fortschritte machen, da wir dauernd zusammen spielten und probten. Das Lucerne Festival Orchestra dirigierte ich das erste Mal eine Woche lang mit Mahler, dann sah ich es ein Jahr später wieder. Da brauchte man Geduld, ich musste lernen, diese Individualisten zu verstehen.»
«Ich leide an keinem Abbado-Komplex»
Das Lucerne Festival Orchestra war und ist ein Klangkörper aus lauter Freunden von Claudio Abbado. Kein Problem für Chailly: «Ich leide an keinem Abbado-Komplex», sagt er, «er war ein guter Freund, ich sein Assistent. Seine Tür war für mich immer offen. Wer Claudio nahestand, steht nun auch mir nahe.»
So nennt er denn die Luzerner Arbeit eine grosse Befriedigung, auf die er stolz sei. «Claudio Abbado hat das Festivalorchester mit Michael Haefliger vor mehr als 20 Jahren neu erschaffen. Die Fortsetzung dieser Erfolgsgeschichte nach Claudios Tod im Jahr 2014 war schwierig. Wir starteten 2016 mit der einzigen Mahler-Sinfonie, die Claudio in Luzern nicht dirigiert hatte: mit der Achten. Von da an – immer in bester Partnerschaft mit Michael – erweiterten wir das Repertoire des Orchesters, führten in neun Jahren Stücke von 22 verschiedenen Komponisten auf. Das ist ziemlich viel.»
Das Projekt Rachmaninow vollenden
Und so dirigiert Chailly in diesem Sommer selbstbewusst eine Sinfonie, die in der Interpretation von Claudio Abbado im Sommer 2005 unvergesslich bleiben wird: die gigantische Siebte von Gustav Mahler. Im zweiten Programm macht er sich daran, seinen Zyklus mit Werken von Sergej Rachmaninow (1873–1943) zu erweitern: Da stehen unter anderem das 1. Klavierkonzert mit Alexander Malofeev sowie die Sinfonischen Tänze auf dem Programm.
Und wie sieht nun die Zukunft aus? Gefragt, ob er seine Arbeit in Luzern weiterführen wolle, sagt Chailly: «Ja klar, warum nicht?» Er sei in Kontakt mit Sebastian Nordmann, denn er wolle das Rachmaninow-Projekt in Luzern vollenden.
Lucerne Festival
Di, 13.8.–So, 15.9. KKL Luzern www.lucernefestival.ch
Riccardo Chailly und Lucerne Festival Orchestra
Fr, 16.8., 18.30 KKL Luzern
Di, 20.8., 19.30 KKL Luzern
Radio
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