«Einer der letzten verbleibenden Giganten»
Paavo Järvi, Dirigent
«Arvo Pärt ist eine der kreativsten und originellsten Persönlichkeiten in der Szene der Neuen Musik und einer der meist aufgeführten lebenden Komponisten. Er ist mir und meiner Familie ein treuer Freund. Letztes Jahr war er an meinem Amtsantrittskonzert in Zürich mit dabei. Er hat sogar ein Stück neu geschrieben für uns: ‹Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte›. Arvo ist eine Ikone für unser Land, er ist vielleicht der bekannteste Este der Welt.
Arvo Pärt begann als Bad Boy der avantgardistischen Komposition, sein erstes Werk hiess ‹Nekrolog op. 5›: unglaublich dissonant und heftig. Dann entfernte er sich Stück für Stück davon. Es folgte eine lange kreative Pause, bis er realisierte, wie viel Lärm es auf der Welt gibt. Die Ruhe, wie er so schön erzählt, und eine einzige Note, ein einziger Klang, können wunderschön sein. Man muss die Schönheit des Einfachen schätzen lernen. Arvo ist eine lebende Legende. Die Idee, ihn als Creative Chair in die Zürcher Tonhalle zu holen, gründet nicht darin, dass er Este ist, sondern dass er ein grossartiger Komponist ist, einer der letzten verbleibenden Giganten.»
«Radikal sanfte Gegenwelt»
Max E. Keller, Komponist
«Ich muss gestehen, Arvo Pärts Musik liess mich lange Zeit kalt. Als politischer Komponist, der sich im Musikbetrieb oft querlegte, hätte ich eigentlich einen Komponisten wie ihn begrüssen müssen, der sich der harschen Klangwelt der gängigen Avantgarde mit sanften Tönen entgegenstellte.
Arvo Pärt hat zu Beginn seiner Karriere garstige Neue Musik geschrieben, so 1960 den zwölf-tönigen Nekrolog für Orchester. 1968 kam er in eine achtjährige Krise, aus der er durch Religion und frühmittelalterliche Musik schliesslich zu der Klangwelt fand, die ihn so ungemein populär machte.
Im Mai 2019 war ich an den World New Music Days in Tallinn; der ganze Tross besuchte das Arvo-Pärt-Zentrum in Laulasmaa – ein imposantes Museum. Später kam Pärt auch in ein Konzert: bescheiden, wortkarg, behutsam, absolut authentisch. Und so ist auch seine Musik: eine radikal sanfte Gegenwelt, nicht kämpferisch, aber absolut glaubwürdig, ohne Show sanft hingesetzt. Vielleicht braucht es auch das in unserer Zeit der zugespitzten Gegensätze und der schreienden Inszenierung.»
«Die Einfachheit irritiert»
Sebastian Bohren, Geiger
«Als Teenager hörte ich zum ersten Mal Musik von Arvo Pärt. Ich war damals Mitglied in einem Streicherensemble, und wir spielten sein Werk ‹Fratres›. Ich war enorm fasziniert von der Kraft dieser Klänge – bis heute erinnere ich mich daran. Das sakrale Element dieser Musik, die Verwandtschaft zu ganz alter Musik haben mich unmittelbar angesprochen. Ich habe ‹Fratres› sehr oft im Konzert gespielt und 2011 auch eine Aufnahme auf Youtube veröffentlicht. Diese Einspielung wurde dann im Hollywood-Film ‹The Place Beyond The Pines› verwendet, ungefragt und nicht deklariert. Für mich ein stiller Triumph.
Heute habe ich ein zwiespältiges Verhältnis zur Musik von Arvo Pärt. Die Einfachheit irritiert mich. Nach wie vor spiele und höre ich einige seiner Werke mit Vergnügen. Mich überzeugt aber nicht alles. Vielleicht sollte man seine Musik nicht mit derjenigen der mitteleuropäischen Avantgarde vergleichen – wie etwa Leos Janácek. Musik steht im Idealfall für sich selbst. Neugierigen möchte ich den Klassiker aller Pärt-Alben ans Herz legen: ‹Tabula Rasa›, erschienen 1984 bei ECM.»
«Extremhaltung als Gegenbewegung»
Matthias Mueller, Komponist
«Mit Sicherheit hat Arvo Pärt 1970 einen Nerv der Zeit getroffen. Religiös beeinflusst, wohl einem inneren Bedürfnis folgend, konzentrierte er sich wie niemand vor ihm auf den Dur-Moll-Dreiklang. Es ist eine Extremhaltung, die nur als Gegenbewegung gelesen werden kann. Trotz Wärme ausstrahlender Dreiklangorgien ist seine ästhetische Haltung eine asketische, wie die Avantgarde auch eine Ästhetik des Verzichts war.
Wegen der fehlenden Substanz wird die Musik von Pärt keine lang andauernde musikgeschichtliche Wirkung haben, umso mehr ist die Rezeptionsgeschichte aufschlussreich. Pärt suchte selber Erlösung in einer heilen Einfachheit, sein Publikum folgte ihm. Ich kann mir nur die Augen reiben, dass dies bis heute anhält, obwohl ästhetische Konzepte vorliegen, die sich von der Dichotomie von hyperkomplexer Sperrigkeit und überreduzierter Einfachheit lossagten und neue konstruktive Welten eröffnen. Das Phänomen Pärt zeigt vor allem, wie wenig in der Neuen Musik und deren Vermittlung sowie dem ganzen Klassikbetrieb in den letzten 50 Jahren passiert ist.»
«Klanggewordener Personalstil»
Dieter Ammann, Komponist
«Die Frage nach dem Stellenwert von Pärts Musik provoziert eine Gegenfrage: Welcher Arvo Pärt? Der Neoklassiker, der Zwölftonmusiker, der Pärt der Collage oder derjenige, in dessen Klängen sich (nicht nur) spirituell Suchende suhlen? Konzentrieren wir uns auf den ‹wohlklingenden› Pärt. Vieles klingt so, wie man es im Volksmund als ‹schön› bezeichnet. Dennoch gibt es qualitative Unterschiede: Ein Beispiel dafür, dass die künstlerische Idee den Kitschfaktor nicht bloss abzumildern, sondern gar aufzuheben vermag, ist der ‹Cantus in Memoriam Benjamin Britten›, den ich gerne als Hörtipp empfehle. Wobei uns ‹Westlern› eigentlich kein Beurteilungsrecht zusteht. Obwohl Pärts Musik in ihrer Einfachheit beinahe universell verständlich ist und von der Materie her einen Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart schafft, sind er und sein Schaffen, primär aus politik- und religionsgeschichtlichen Gründen, nur vor dem Hintergrund seiner Herkunft zu verstehen. Seine Musik ist klanggewordener Personalstil. Und das schafft nicht jeder Schöpfer von Musik.»
Konzerte
Paavo Järvi – Pärts «Tabula Rasa»
Mi–Fr, 13.1.–15.1., jew. 19.30 Tonhalle Zürich
Weitere Daten mit Musik von Arvo Pärt: www.tonhalle-orchester.ch
Radio
«Paradisi gloria» – Auftakt zu Ehren von Arvo Pärt
Konzert mit Münchner Rundfunkorchester und Chor des BR
So, 29.11., 19.05 BR Klassik
CD
Arvo Pärt
Lamentate
(Naxos 2020)