Klassische Musiker können nicht improvisieren. Es gibt zwei Ausnahmen: Die barocken Tastenkünstler sind schon von Natur aus dazu gezwungen, weil man damals nicht die kompletten Stimmen ausgeschrieben hat, sondern bloss die Basslinie mit einigen harmonischen Angaben. Daraus zaubern Künstler wie der Schweizer Rudolf Lutz wahre Kunstwerke an Girlanden und Verzierungen. Die zweite Ausnahme sind die Organisten. In ihrer Szene hat sich die Herausforderung gehalten, dass man auch aus dem Stegreif Musik erschafft.
Manche komponieren spontan elaborierte Kontrapunkt-Konstruktionen, andere freuen sich daran, mal so richtig alle Register zu ziehen und die klangliche Macht ihrer Instrumente auf eindrucksvolle Art zur Schau zu stellen. Wer ein Leuchten in den Augen eines Organisten sehen will, sagt ihm einfach: «Mach mir bitte mal ein Gewitter.»
Organist ohne Berührungsängste
Wayne Marshall ist Organist und hegt eine grosse Vorliebe für den Klangfarbenreichtum der französischen Spätromantik von Vierne, Widor oder Franck. Und er ist auch Jazzmusiker. Das Improvisieren ist ihm also in die musikalische Biografie gelegt worden. Sie ist vor allem von einer Linie geprägt: Vielseitigkeit. Wayne Marshall kennt keine Berührungsängste.
Von Barock bis Oper über Musical oder Filmmusik findet er den passenden Zugang. «Nur Organist zu sein, wäre eine Strafe für mich», sagt er. Aber ohne Orgel hält er es auch nur wenige Tage aus. Als er 2003/2004 die Gershwin-Oper «Porgy and Bess» auf der Bregenzer Seebühne dirigierte, fuhr er regelmässig nach St. Gallen, um auf der prächtigen Orgel der Kathedrale zu spielen – zur Freude der Besucherinnen und Besucher auch im regulären Gottesdienst.
Die Begeisterung für George Gershwin
Wayne Marshall strotzt vor Energie und Positivität. Über sich erzählt er: «Ich bin privilegiert aufgewachsen, war an sehr guten Schulen, ich habe Rassismus nie persönlich wahrgenommen.» Das Auffälligste an ihm sind seine Hände: Sie scheinen riesig. Auf Fotos inszeniert er sie sehr gerne, hält sie so in die Kamera, dass sie manchmal doppelt so gross wie sein Gesicht erscheinen.
Acht Jahre alt sei er gewesen, erzählt Wayne Marshall, als er das «Concerto in F» von George Gershwin im Radio gehört habe. «Ich konnte noch gar nicht richtig Noten lesen, aber ich wollte eine Schallplatte und die Partitur. Ich hörte mir die Aufnahme stundenlang an.» Seine Eltern stammen aus Barbados, Musik spielte eine wichtige Rolle im Familienleben, sowohl Klassik wie Jazz. Und der Kleine spielte zu Hause gerne mit den Melodien, die er in der Kirche gehört hatte.
Das Variieren und Weiterspinnen von Melodien sei ihm damals schon leichtgefallen, sagt Marshall: «Es war für mich schon immer natürlich, mitdiesen melodischen Gedanken zu spielen.» Der Weg zum Musiker war damit vorgezeichnet und führte Wayne Marshall an das Royal College of Music in London, wo er Orgel und Klavier studierte. Gershwin blieb sein Leitstern, und als er André Previn hörte, wie er vom Klavier aus Gershwins Konzert dirigierte, war für ihn klar: «Das will ich auch!»
«Die erste Probe ist manchmal ein Desaster»
So kam Marshall zum Dirigieren. «Born to Play Gershwin» heisst denn 50 Jahre später auch sein Album mit Melodien seines Idols. Er spielte es 2020 als Chefdirigent mit dem WDR Funkhausorchester ein. Sein Klavierspiel ist dabei voller virtuoser Brillanz und eigenwilliger Originalität, seine grosse Erfahrung auf dem Gebiet des freien Improvisierens ist auf Schritt und Tritt zu spüren.
Danach hat er darauf verzichtet, eine weitere Chefposition als Dirigent anzunehmen. Mit 63 Jahren konzentriert er sich jetzt darauf, als Pianist, Organist und freier Dirigent seine Liebe zu Gershwin und seine Fähigkeiten an den Schnittstellen zwischen Klassik, Jazz und freier Improvisation auszuleben. Er will «den Orchestern das Grooven beibringen», wie er gerne sagt. Nach spätestens einer Woche habe er das noch bei jedem Orchester geschafft, auch wenn die erste Probe manchmal ein Desaster gewesen sei, lacht er.
«Für die Streicher ist es am schwierigsten, sie sind auf einen schönen Klang trainiert, der meistens etwas Zeit braucht, sich zu entwickeln. Für den Jazz aber gilt: Zu spät ist einfach zu spät.»
An der Orgel einfach nur sich selbst sein
Im Dezember tritt Marshall in der Tonhalle Zürich auf. Natürlich mit Gershwin und dessen Klavierkonzert in F, exakt jenem Werk also, das ihn als Achtjährigen wie ein Blitz traf. Und danach lässt es sich Wayne Marshall nicht nehmen, auf der Bank der brandneuen Tonhalle-Orgel Platz zu nehmen und als Improvisator dem ehrwürdigen Saal zu zeigen, was man mit diesem mächtigen Instrument so anstellen kann.
Worüber genau er improvisieren wird – von Bach und Beethoven über Gershwin und Jazz bis Filmmusik und Hip-Hop ist alles möglich –, verrät er meistens lieber nicht: «Dieser Moment hat etwas Instinktives. Ich bin beim Improvisieren einfach nur ich selbst. Dieses Gefühl liebe ich über alles.»
Konzerte
Wayne Marshall spielt Werke von Gershwin, Rachmaninow, Dessner und improvisiert auf der Orgel
Mit dem Tonhalle-Orchester unter Paavo Järvi
Mi, 13.12.–Fr, 15.12., jew. 19.30 Tonhalle Zürich
Alben
Wayne Marshall
Born to Play Gershwin (Cavi 2020)
Wayne Marshall
Orgelmusik von Dupré, Widor, Messiaen u. a. (Base2Music 2021)