Island hat 370 000 Einwohner, unzählige heisse Quellen, ein paar erstaunlich gute Fussbal- ler – und einen Weltklasse-Pianisten. Im dunklen isländischen Winter kam Víkingur Ólafsson 1984 in Reykjavík zur Welt. Die Mutter war Klavierlehrerin, ihr Sohn talentiert und fleissig genug, um an der New Yorker Elite-Schmiede Juilliard School aufgenommen zu werden. 2008 hat er dort seinen Master gemacht und danach eine vorerst eher gemächliche Pianistenkarriere angetreten. Den Fokus legte er dabei vorwiegend auf ein zeitgenössisches Repertoire.
Ein etwas anderer Tastenvirtuose
Seiner Insel ist Víkingur Ólafsson stets eng verbunden geblieben. Sie ist für ihn lebenswichtiger Rückzugsort und Inspira- tionsquelle. Aber er betont auch gerne, dass Island eine junge, aufstrebende Kulturnation sei. Er selbst trägt dazu bei: Allein sechs Klavierkonzerte von jungen isländischen Komponisten hat er schon zur Uraufführung gebracht. Er habe als Kind das Klavier als Spielzeug betrachtet – und das habe sich bis heute nicht geändert: «Zum Glück hat keiner meiner Lehrer versucht, mir das auszutreiben.»
Sensibel, ausgetüftelt, tief in die Musik hineingehorcht sind seine Interpretationen. Immer wieder wird er mit dem eigenwilligen Klavier-Genie Glenn Gould verglichen. Aber es gibt auch Hörerinnen und Hörer, die sein Spiel selbstverliebt finden.
Man kann es verstehen: Der Isländer hat vermutlich noch keine einzige Note auf dem Klavier so gespielt, wie es normale Klavierschülerinnen oder stromlinienförmige Tastenvirtuosen tun würden. Oder wenn doch, dann nur, um zu demonstrieren, wie man etwas nicht spielen sollte.
Ein Klavierabend mit Víkingur Ólafsson kann ganz rasch zu einem Volkshochschul-kurs über Bach, Rameau oder Mozart werden. Es kann passieren, dass er mitten in einer Sonate aufspringt und dem Publikum eine gerade gespielte Passage erklärt, dabei eloquent und charmant begründet, warum man sie gerade so und nicht anders spielen soll – und dieses «anders» wird natürlich genüsslich demonstriert.
Den Komponisten ins Handwerk «pfuschen»
Die Lacher hat Ólafsson damit oft auf seiner Seite. Die Herzen fliegen ihm zu, sogar wenn er völlig unbekannte oder zeitgenössische Stücke spielt. Man nimmt ihm sofort ab, dass es ihm wirklich um die Musik geht.
Aber er hat zweifellos eine missionarische Ader. Das hängt auch damit zusammen, dass er sich jedes Mal, wenn er sich mit einem neuen Komponisten beschäftigt, ein halbes Jahr lang praktisch einschliesst, fast alles spielt und noch mehr liest über das Werk und das Umfeld.
Das führt dann nicht nur dazu, dass er dieses Wissen gerne mit dem Publikum teilt. Sondern auch, dass er den Komponisten durchaus ins Handwerk «pfuscht» und zum Beispiel mal ein paar Takte Mozart einfach weglässt, weil er sie für überflüssig hält. Ólafssons erste drei Alben erschienenen bei seinem eigenen Label, dann wurde die Deutsche Grammophon auf ihn aufmerksam.
Soeben ist sein fünftes Album beim Traditionslabel auf den Markt gekommen. Nach Philip Glass, J. S. Bach, Mozart und Debussy/Rameau widmet es der isländische Pianist diesmal dem 96-jährigen György Kurtág. Auszüge aus dessen Klavierzyklus «Játékok» («Spiele») kombiniert er dabei mit Musik seiner weiteren «Hausgötter» Bach, Mozart oder Schumann. Dazu kommen Stücke zeitgenössischer Komponisten ausIsland oder ein ganz neues Werk des Briten Thomas Adès.
Steinway-Flügel und Klimperklavier
Das Album «From Afar» ist aber mehr als eine Hommage an Kurtág. «Es ist persönlicher als meine bisherigen Aufnahmen», sagt Víkingur Ólafsson. «Denn es hat eine tiefe Verbindung zu meiner Kindheit.» Das zeigt sich nicht nur im Programm, sondern auch bei den Instrumenten: Für diese Einspielung hat der isländische Pianist zwar standesgemäss einen gros- sen Steinway-Flügel verwendet.
Aber nicht nur: Das gesamte Programm hat er zusätzlich auf einem ganz normalen Klimperklavier mit viel Pedal und permanenter Filzdämpfung aufgenommen. Zwar verliert sich dabei einiges von Ólafssons kristallklarem Spiel, aber die verwischten, warmen Farben entfalten ihren eigenen Reiz in diesem mit nostalgischen Erinnerungen durchtränkten Programm.
Bei seinem kommenden Auftritt am Festival «Le piano symphonique » in Luzern spielt Ólafsson das halsbrecherisch schwere Klavierkonzert von Ignaz Jan Paderewski. Und auch diesmal profiliert er sich mit originellen Programm-ideen. Für den zweiten Teil des Abends hat Ólafsson dem Orchester freigegeben und spielt allein weiter: Philip Glass, Mozart, Carl Philip Emanuel Bach und ein neues Stück des Briten Edmund Finnis.
Ein Festival mit grossen Namen
Überraschungspotenzial bringen auch andere mit, die beim Klavierfestival des Luzerner Sin- fonieorchesters in die Tasten greifen: allen voran die Grande Dame des Pianos, Martha Argerich. Sie spielt das populäre Schumann-Konzert und hat mit Mischa Maisky und Thomas Hampson zwei renommierte Kammermusik-Freunde eingeladen. Der Cembalo-Wun- derknabe Jean Rondeau bringt Kostbarkeiten aus seiner Heimat Frankreich mit. Solistin im grossen Tschaikowsky-Konzert ist Khatia Buniatishvili. Und Rudolf Buchbinder spielt neben Schumann und Bach auch Beethovens «Appassionata».
Festival
Le piano symphonique
Di, 7.2.–Sa, 11.2.
KKL, Orchesterhaus, Neubad Luzern
www.sinfonieorchester.ch
Album
Víkingur Ólafsson - From Afar
(Deutsche Grammophon 2022)