kulturtipp: Ludovico Einaudi, Sie haben 2019 in kurzer Zeit sieben CDs eingespielt. Was steckt hinter dem Zyklus «Seven Days Walking»?
Ludovico Einaudi: «Seven Days Walking» ist die Darstellung eines Musikprozesses. Jede musikalische Idee enthält Variationen in sich. Mich interessierte es, wie ein und dieselbe Musik verschieden gespielt aufgenommen werden kann. Das ist fast schon ein Zen-Prozess.
Sie spielten auf sieben CDs sieben Mal dasselbe?
Nein, aber schauen Sie: Der französische Künstler Paul Cézanne malte auch denselben Berg in verschiedenen Momenten des Tages unter unterschiedlichen Lichteinflüssen. Ich spielte einige Stücke an verschiedenen Tagen. Das ergab Zufügungen, Tempowechsel, Variationen: Ein Fragment gebar ein neues. Es war so, wie wenn man in einem Ort, den man gut kennt, ein zweites Mal reinkommt.
Sie sind der Interpret Ihrer Werke: Ist denn Einaudi nur ein Einaudi, wenn Sie ihn selbst spielen?
Nein, es kann auch ein anderer meine Werke spielen. Aber für mich hängt die Musik sehr mit dem Klang zusammen – ich habe geradezu eine Vision eines Klangs, den ich suche. Aber es wäre interessant, einen anderen Interpreten zu hören.
Maurizio Pollini oder Lang Lang?
Das wäre eine Ehre! Es muss nicht zwingend ein Pianist sein, auch der Geiger Daniel Hope hat meine Musik sehr gut gespielt.
Bald kommen Sie auf die Wege Ihres einstigen Mentors Luciano Berio zurück. Ihre Oper «Winter Journey» wird in Palermo uraufgeführt. War Berios Opernschaffen wichtig für Ihre eigene Oper?
Berio schrieb drei, vier grosse Opern, sie wurden in Salzburg und in Mailand uraufgeführt. Ich habe mit ihm auch an der Scala für «La vera storia» gearbeitet. Das sind schöne Erfahrungen, aber ich weiss nicht, wie viel davon nun in meinem neuen Werk steckt. In seinen Werken gibt es eigentlich keine Erzählung. Und in meinem Werk gibt es eine innere Handlung, die Personen erzählen ihre Gedanken, auch dramatische. Es geht um Migration – ein grosses Thema unserer Zeit, aber auch in den anderen Epochen.
Ihre Oper ist hochaktuell – und politisch!
Ja, das stimmt schon, aber ich möchte nicht, dass diese Oper nur unter diesem Aspekt angesehen wird: «Winter Journey» ist eine menschliche Tragödie. Die zwei Hauptrollen werden zwar von zwei Afrikanern gesungen, und es gibt einen Chor, der mehr oder weniger die öffentliche Meinung darstellt und das Geschehen kommentiert oder reflektiert. Aber da gibt es auch zwei Personen, die sich verlassen haben. Meine sehr gefühlsbetonte Oper ist also eher eine Geschichte der Menschlichkeit als eine politische Erklärung. Es ist eine Geschichte des Verlustes.
Was zog Sie damals als Student hin zu Luciano Berio?
Da strömte eine Emotion, die ich bei anderen Komponisten nicht erlebte. Er war auch offen für populäre Musik, etwa den Jazz, und ich verstand seine Sprache, war davon extrem beeinflusst. Ich eignete mir den Stil der 1980er an und lernte die Technik der Zwölftonmusik. Als meine Werke bereits aufgeführt wurden, stellte ich mir aber die Gretchenfrage: Spüre ich diese Musik überhaupt in mir?
Offenbar nicht, denn Sie wendeten sich radikal davon ab.
Es war nicht mehr möglich, eine wirkliche Verbindung zwischen meiner Vision und meiner musikalischen Sprache zu finden. Ich tendierte schon damals zu einer tonalen Musik. Da, wo ich mich von der abstrakten Musik entfernt hatte, war mir das Resultat viel näher. Und ich erinnere mich, wie Berio mir damals sagte: «Du bist daran, die Schafe in den Stall zu bringen.»
Dachten Sie bei Ihrer Totalumkehr ans Publikum, an Erfolg?
Nein, das war eine Bewegung aus dem Herzen. Als ich begann, einen neuen Weg zu gehen, stiess ich auf verschlossene Türen. Als die Protagonisten der zeitgenössischen Musik, die mich aufgenommen hatten, merkten, dass ich einen neuen, tonalen Weg wählte, ging man auf Distanz. Selbst mein Verleger Ricordi wurde misstrauisch. Aber ich wollte meinen Gefühlen folgen. Ich wusste: Sonst bin ich das ganze Leben in einem Schuh, der nicht mir gehört, in einem Haus, das nicht meins ist. Es war eine lange Suche, auch eine quälende.
Aber irgendwann war die Sache ausgestanden, diese andere Richtung gewählt.
Eigentlich nicht, denn mein Denken und meine Musik sind voller Elemente, die nicht an die musikalische Sprache, aber an eine Vision gebunden sind. Berio lehrte mich, dass ich die Musik nicht als isolierte Sache sehe, sondern sie mit der Wissenschaft – der Philosophie – verbinden solle. Einst waren wir auf dem Land, da flog ein Schwarm Vögel vorbei, und Berio sagte zu mir, dass es schön wäre, eine Art zu finden, den Flug der Vögel kompositorisch abzubilden. Daran dachte ich, als ich 1996 «Le Onde» komponierte.
Interview: Christian Berzins
Konzerttournee
www.ludovicoeinaudi.com
CD
Ludovico Einaudi
Seven Days Walking
7 CDs, einzeln lieferbar
(Decca 2019)
Ludovico Einaudi – der meistgestreamte Klassikkünstler aller Zeiten
Als Ludovico Einaudis Album «Seven Days Walking: Day One» am 22. März dieses Jahres erschien, wurde es innerhalb von 24 Stunden zwei Millionen Mal gestreamt. Klassikrekord! Insgesamt zwei Milliarden Streams machen den 63-jährigen Turiner zum meistgestreamten Klassikkünstler aller Zeiten. Callas, Karajan und Casals können da einpacken. Mitte September erschien die siebte CD. Erstaunlich auch, wie jung sein Publikum ist!
Ob es Klassik ist – oder eher Klassikkitsch? Im Elfenbeinturm gepflegte und geförderte Komponisten reagieren gereizt und mit Spott auf Kollegen, die der simplen Schönheit tonal huldigen, die tonal komponieren. Einaudis Musik ist so nichtig, so «immerglücklichschön», so oberflächlich leicht, so immer gleich repetiert, dass es ein Graus ist. Aber diese Musik umgarnt auch. Würden die Frühlingswolken Musik machen, klänge es wie Einaudi. Diese Musik umschlingt. Damit fahren Fahrstühle bis zum Himmel. (bez)