Am Anfang steht Bach, das C-Dur-Präludium, mit dem Bach sein Kompendium «Das wohltemperierte Klavier» eröffnet. Aber eigentlich geht es um Chopin, der in seinen 24 Préludes op. 28 die Idee von Bach aufnahm und gleich wie das grosse Vorbild einen Klavier-Kosmos quer durch alle Dur- und Moll-Tonarten schuf. Den wollte Alice Sara Ott nicht nur einspielen, sondern mit aktueller Musik kombinieren: «Ich habe unzählige Playlists durchgehört.» Schliesslich fiel die Wahl für ihr neues Programm auf Werke von Francesco Tristano, György Ligeti, Toru Takemitsu oder Arvo Pärt. Die Pianistin freut sich, dass diese Kombinationen Chopins Préludes einen zeitlosen Anstrich geben: «Ich war überrascht, wie modern und provokant Chopin in dieser Konstellation wirkt.»
Lebensbejahendes aus der Totenmesse
Für das Ende des Programms, das sie als einen Zyklus von Lebensstationen sieht, hat sich Ott etwas Besonderes einfallen lassen: «Das 24. Prélude von Chopin endet sehr düster, voller Schmerz und Verzweiflung. Ich wollte das Publikum nicht in dieser Stimmung aus dem Konzert entlassen.» Tröstlicheres fand sie in den letzten Noten, die Mozart geschrieben hat, im «Lacrimosa» aus dem Requiem. Daraus hat sie einen Epilog arrangiert: «Diese Musik ist zwar aus einer Totenmesse, aber sie hat für mich dennoch etwas Aufmunterndes und Lebensbejahendes. Ich wollte einen Raum schaffen, in dem die Fragen reflektiert werden können, die sich im Lauf des Konzerts aufgetan haben.»
Wegkommen von der Perfektion und Sterilität
Schon in ihrem vorletzten Programm «Nightfall» hat sich Alice Sara Ott Gedanken darüber gemacht, wie sie mit dem Licht im Konzertsaal die Stimmungen beeinflussen kann. Für «Echoes of Life» geht sie nun noch einen Schritt weiter und kombiniert diese Lebensreise um Chopins Préludes mit ihrer Faszination für die Baukunst: Der Architekt Hakan Demirel hat eine digitale Formenwelt zur Musik erschaffen, die als Videoinstallation zu diesem Programm gezeigt wird. «Ich mag es, die Möglichkeiten unserer Zeit auch in einem klassischen Konzert auszunutzen», begründet Ott diese optische Anreicherung: «Ich bin ja auch ein Mensch des 21. Jahrhunderts, ich spiele Playstation und finde es total spannend, was man mit Virtual Reality anstellen kann.»
Das Album «Echoes of Life» erschien letzten Sommer bei der Deutschen Grammophon. Schon 2010 war ihr zweites Album dem Klavierwerk von Chopin gewidmet: Mit erst 21 Jahren spielte sie sämtliche Walzer und erntete dabei viel Lob für ihr sensibles, elegantes, seelenvolles Chopin-Spiel. Sie hat auf ihren bisher zehn CDs quer durch das Standard-Repertoire geschnuppert – Beethovens «Waldstein»-Sonate, Tschaikowskys erstes Kla-vierkonzert oder Liszts horrend schwierige Etüden –, aber auch immer gerne neue Wege beschritten. Zum Beispiel wagte sie sich mit Francesco Tristano auf zwei Klavieren an Strawinskys Skandalstück «Le Sacre du printemps» oder liess sich mit dem isländischen Multiinstrumentalisten und Stil-Chamäleon Olafur Arnalds auf ein «Chopin Project» ein, bei dem sie auf verstimmten Bar-Pianos vor den Geräuschkulissen des Alltags spielte. «Ich wollte wegkommen von der Perfektion und Sterilität, die wir in der klassischen Musik zelebrieren, und etwas Menschliches in diese Musik hineinbringen», sagt die Pianistin zu diesem unkonventionellen Album.
Espresso, Pink Floyd und Whisky
Unkonventionell ist so manches an Alice Sara Ott: Es kann passieren, dass sie barfuss auf die Konzertbühne schreitet oder sich im Schneidersitz auf den Klavierhocker setzt. Das Lösen eines Rubikwürfels vor dem Auftritt gehört zu ihrem Konzertritual. Das sei gut für die Durchblutung der Finger und das Aufwärmen der Hände. Aber sie mag auch so normale Dinge wie Espresso, Schokolade, Pink Floyd und Whisky. Und die japanischen Wurzeln von Alice Sara Ott brechen sich Bahn in kunstvollen Origami-Konstruktionen oder in der Kreation von Ledertaschen für das deutsche Label Jost.
Es ist nicht so, dass es keine Schatten gäbe in diesem Künstlerinnenleben. 2018 litt sie während einer Japan-Tournee an seltsamen Symptomen, erlitt einen Zusammenbruch. Erst ein halbes Jahr später stand die Diagnose fest: Multiple Sklerose. So wie sie auch sonst ihre Gedanken freimütig teilt, machte sie kein Geheimnis daraus. Noch viel mehr aber will Alice Sara Ott mit der Vorstellung aufräumen, dass klassische Musik reichen und gebildeten Menschen vorbehalten sei: «Man muss nicht gebildet sein, um Freude an klassischer Musik zu haben. Aber sicher trägt es zur Bildung bei, wenn man ihr zuhört.»
Konzert
Echoes of Life
Fr, 11.2., 19.30 KKL Luzern
CD
Alice Sara Ott
Echoes of Life
(Deutsche Grammophon 2021)
Zweimal zwei Nummern zwei
Le piano symphonique taufte das Luzerner Sinfonieorchester sein jüngstes Festival. Neun Konzerte finden in fünf Tagen statt: Das Programm aber ist keineswegs französisch, sondern orientiert sich ganz an Johannes Brahms. Im Zentrum steht das Sinfoniekonzert unter dem neuen Chefdirigenten Michael Sanderling, in dem zweimal zwei Nummern zwei erklingen: die zweite Sinfonie und das zweite Klavierkonzert mit Marc-André Hamelin als Solist. Daniel Behle singt den Liederzyklus «Die schöne Magelone», in einem Lunchkonzert spielt die russische Pianistin Anna Tsybuleva, und die grosse KKL-Orgel wird mit Brahms zum Klingen gebracht. Dazu gibt es viel Kammermusik im Orchesterhaus in Kriens mit Martin Helmchen oder der Cellistin Marie-Elisabeth Hecker.
Le piano symphonique
Mi, 9.2.–So, 13.2. KKL Luzern & Orchesterhaus Kriens LU
www.sinfonieorchester.ch