kulturtipp: Raphaël Merlin, Sie haben ein Jahr lang kaum etwas anderes als Ludwig van Beethoven gespielt. Macht es Ihnen überhaupt noch Spass, diese Werke aufzuführen?
Raphaël Merlin: Man wird nie müde, Beethoven zu spielen. Seine Musik ist so gross, seine 16 Werke für Streichquartett sind der Himalaya des Repertoires. Wir wussten zu Beginn dieser Reise auch nicht, ob dieses Konzept wirklich gut funktionieren würde. Aber wir sind froh, und es ist eine grosse Genugtuung für uns, dass der Zyklus so organisch und lebendig gelungen ist.
Sie haben Beethoven auch in Afrika und Südamerika gespielt. Welchen Einfluss hatte dieses zum Teil nicht gerade klassik-affine Publikum auf Ihr Spiel?
Wir waren enorm überrascht, wie stark die Botschaften in Beethovens Musik sich in diesen Konzerten sofort mitteilen konnten. Beethoven hatte ein sehr starkes humanistisches Ideal, er beschwört die Brüderlichkeit der Menschen, aber wir wussten nicht, wie diese Message in den verschiedenen Kulturen ankommen würde. Als wir etwa in Nairobi in den Slums spielten, vor sehr jungen Menschen, die jeden Tag um ihr Überleben kämpfen, in Dreck und Schmutz, extremster Armut und alltäglicher Kriminalität leben, war es frappant zu erleben, wie stark die Kraft dieser Musik ist, viel stärker als jede sprachliche oder intellektuelle Botschaft. Man spielt diese Stücke nach einem solchen Erlebnis nie mehr gleich wie zuvor, weil man das Leuchten in den Augen eines achtjährigen Kindes sofort wieder vor sich sieht.
Eine CD-Einspielung ist immer auch das Fixieren einer Interpretation, die Summe der gewonnenen Erfahrungen, eine Ernte sozusagen. Oder erwarten Sie, dass sich Ihr Beethoven-Bild wieder verändern wird?
Auf jeden Fall. Mit Beethoven sind wir nie fertig! Musik ist immer Veränderung, es gibt keine mechanische Reproduktion, das würde die Musik sofort töten. Und das gilt besonders für wirklich gute Musik, und für Beethoven noch einmal in ganz speziellem Mass. Seine Musik ist unglaublich modern. Es gibt darin immer einen Kern von Erkenntnis, der den Zuhörer, die Zuhörerin provoziert, geistig herausfordert und stimuliert. Beethoven ist nie einfach schön oder ausbalanciert, und sicher nie bequem. Das ist eine essenzielle Kraft, die man vielleicht bei keinem anderen Komponisten so intensiv findet, auch nicht bei Mahler oder Schönberg. Und Beethoven hat vielleicht so viele Türen geöffnet wie kein anderer.
Wo denken Sie, zeigt sich das am stärksten?
Wenn wir die Streichquartette als Zyklus spielen, spüren wir Brahms, Mendelssohn, Schumann darin, sogar Grieg oder Rossini sind versteckt, manchmal echter Debussy in den Klangfarben. Das Scherzo von op. 135 klingt in seiner verrückten repetitiven Obsession fast schon wie Steve Reich. Es ist nicht nur die Invention, die Beethoven modern macht, es ist vor allem auch das Wagnis, das er einzugehen bereit war.
Beethoven war in Wien ja berühmt als grosser Improvisator. Spürt man das noch in seinen Quartetten?
Nicht so klar, würde ich sagen. Improvisation war für ihn ein intensiver künstlerischer Gestus. Er war ein Monster, spielte jeden anderen Musiker an die Wand, als Pianist war er bekannt als überaus dramatisch und romantisch. Aber schon in den ersten Quartetten op. 18 finden wir sehr viel Balance und Form, er hat daran gefeilt und sehr viel korrigiert.
In seinen späten Jahren galt er als Sonderling, war fast vollkommen taub, und seine letzten Quartette wurden von den Zeitgenossen überhaupt nicht verstanden.
Die letzten Quartette sind philosophischer, essayistischer, aber es ist dennoch Musik, die sehr präzis ist. Es gibt darin keine Phrase oder Melodie, die einfach nur seltsam ist. Aussergewöhnlich vielleicht, und damit für die Zeitgenossen fremd. Um Beethovens Taubheit geht es dabei nicht, ich würde sagen, seine Taubheit hat ihm die Kraft gegeben, sich trotz diesem Leiden selber zu verstehen und sich so auszudrücken, wie er es wollte. Es ist ein unglaublicher Wille spürbar in seiner Musik.
Gibt es auch Humor in Beethovens Quartetten?
Gibt es. Aber nicht oft. In über acht Stunden Musik macht er drei, vier wirkliche Witze. Etwa in der Fuge im dritten Rasumowsky-Quartett, in der Beethoven mit dem Zuhörer spielt: Man denkt, es sei schon zu Ende, und dann geht es doch immer wieder weiter. Die Coda im Quartett op. 95 ist sehr witzig, umso mehr, als das ganze Werk davor überaus ernsthaft ist. Oder das «alla tedesca» in op. 130, in dem sich Beethoven über die deutsche Schwerfälligkeit etwas lustig macht.
Haben Sie nach all den vielen Konzerten ein Lieblingswerk?
Das Harfenquartett ist ein Lieblingswerk von Gabriel und mir. Aber wenn ich nur eines behalten dürfte, wäre es wohl doch das epische op. 130 mit der Grossen Fuge. Nicht weil es besonders Spass macht, sondern weil es diese unglaubliche Tiefe hat.
CD
Quatuor Ébène
Beethoven Around The World – The Complete String Quartets
(Warner 2020)
Rund um den Erdball
Ébène bedeutet Ebenholz, das Material, aus dem das Griffbrett für Streichinstrumente hergestellt wird. Für das seit 20 Jahren bestehende Quartett ist es Chiffre für Eigenständigkeit und wache Neugier, für die Freude am Rhythmus und die Herausforderung musikalischer Improvisation. Von ihrem Landsmann, dem Elektro-Geiger Jean-Luc Ponty, liessen sich die vier französischen Streicher ebenso inspirieren wie von Heifetz und Co. Die Jahre 2019 und 2020 stehen für das Quartett ganz im Zeichen von Beethoven: Sämtliche 16 Streichquartette des vor 250 Jahren geborenen Komponisten-Genies haben sie rund um den Erdball gespielt und sieben Konzerte davon live mitgeschnitten. Die CD-Box über diese musikalische Weltreise ist soeben bei Warner erschienen. Eine DVD ist in Planung.