Es gibt in der klassischen Musik viele Karrieren, die sehr geradlinig und zielstrebig verlaufen: Eltern als Vorbilder, früh erkannte Begabung, gute Lehrer und Musikschulen, Gewinne an wichtigen Wettbewerben, prominente Fürsprecher und Förderer. Manchmal aber läuft es ganz anders, wie bei Sarah Wegener: Schulmusik-Studium und ein Instrument, das nicht gerade sexy ist: Kontrabass. Ein bisschen Orchester spielen, da und dort einen Chor dirigieren, das eine oder andere Kammermusik-Projekt mit dem Bass. Und ein bisschen singen.
Das Singen gefiel der jungen Bassistin und Schulmusikern aber ziemlich gut. Aber auf die Idee, dieses «Instrument» weiter zu fördern, mussten sie erst andere bringen: «Ich habe mich jahrelang nicht getraut, loszulassen und etwas von mir preiszugeben. Ich stehe mir mit meinem Perfektionismus manchmal heute noch im Weg.» Für die Profi-Karriere als Sängerin schien der Zug abgefahren. Aber da war auch die Freude an der Stimme und ihren Möglichkeiten.
Mit Heinz Holliger und einem gut gelaunten Stück
Und da waren Lehrer, die ihr Potenzial erkannten, schliesslich auch Dirigenten, die weniger auf Mainstream-Karrieren achteten, als dass sie Sänger suchten, die in ihre Art des Musikmachens passten. Frieder Bernius etwa, der sensible Chormusikspezialist aus Stuttgart, oder Michael Hofstetter, bald darauf auch Heinz Holliger, einer der eigenwilligsten und unverbiegbarsten Musiker unserer Tage, ein «extremer Eigenbrötler», wie Sarah Wegener liebevoll sagt.
Mit ihm singt sie nun auch am kommenden Zermatt Festival. Holliger hat sie eingeladen für ein Werk, von dem auch viele Klassik-Kenner noch nie gehört haben: Kantate «Serenaden» op. 35 von Paul Hindemith (1895–1963). Ein neobarockes, spielerisch gut gelauntes Stück für Sopran, Oboe, Viola und Cello, das Hindemith seiner Frau, die eine gute Sängerin war, aber wegen unkurierbarem Lampenfieber fast nie öffentlich auftrat, zur Hochzeit widmete. Dazu kommen Lieder und Instrumentalstücke von Robert Schumann, die Aribert Reimann und Matthias Kuhn für Holliger, der auch im Alter von 80 Jahren noch ein Weltklasse-Oboist ist, arrangiert haben.
Ausgewiesene Spezialistin für schwierigste Aufgaben
Und wirklich schrecken kann Sarah Wegener eine solche Anfrage nach einem völlig unbekannten Stück auch nicht. Schliesslich hat sie sehr viel zeitgenössische Musik gesungen, wurde als Protagonistin in der Oper «Bluthaus» von Georg Friedrich Haas von der Fachjury der Zeitschrift «Opernwelt» 2010 sogar als Sängerin des Jahres nominiert. Eine Zeit lang galt sie als ausgewiesene Spezialistin für schwierigste Aufgaben in der Neuen Musik, hat in den Jahren 2013 bis 2015 auch kaum etwas anderes gesungen. «Ich lerne schnell, aber es gab auch Aufgaben, die mich an den Rand des Wahnsinns getrieben haben. Da landeten die Noten auch schon mal in der Ecke des Übungsraums», erinnert sie sich. «Ich habe dann gemerkt, dass es mir als Künstlerin und Sängerin nicht genug ist, mich musikalisch nur in diesen Welten zu bewegen. Ich wollte auch Bach singen, ein Mozart-Requiem oder Lieder von Reger und Strauss.»
Zum Glück! Denn wenn man hört, wie sie gerade Richard-Strauss-Lieder singt, dann wird ohrenfällig, dass sich diese Sopranstimme wunderbar für die eleganten, weit gespannten und harmonisch reichen Linien eignet. Im Oktober 2019 sprang sie mit Orchesterliedern von Strauss für Diana Damrau beim Orchester des Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons ein. Eines der letzten Konzerte des Maestros, der wenige Wochen später verstarb – und ein Triumph für Wegener, nachzuhören auf der BR-Webseite www.br-online.de. Es ist vorbildlich in der sprachlichen Gestaltung und vor allem wunderschön auf Linie gesungen.
Das erste Lied-Album ist dem Meer gewidmet
Viel Neue Musik mit Sarah Wegener ist auch auf CD erschienen: Werke von Heinz Holliger, Rudolf Kelterborn oder Jörg Widmann sind erhältlich. Mit ihrem Mentor Frieder Bernius hat sie eine ganz Reihe klassischer barocker Meisterwerke eingespielt, darunter die c-Moll-Messe von Mozart, das Stabat Mater von Haydn, das unbekannte Schubert-Oratorium «Lazarus» und als einzige Oper das romantische Schauerdrama «Der Berggeist» von Franz Danzi. 2017 erschien das erste Lied-Album von Sarah Wegener. Sie widmete es dem Meer und suchte zusammen mit dem Pianisten Götz Payer bei Brahms, Schubert und Richard Strauss sowie den Nordländern Sibelius und Grieg nach Liedern, die vom manchmal rauen, oft aber auch geheimnisvoll verborgenen Wesen der Meere handeln.
Konzert
Sarah Wegener und Heinz Holliger
Do, 17.9., 19.30 St. Mauritius Pfarrkirche Zermatt VS
CD
Into the deepest sea!
Lieder von Brahms, Schubert, Sibelius, Grieg u.a.
(Cavi 2017)
Zermatt Music Festival & Academy
Das Scharoun-Ensemble mit führenden Musikern der Berliner Philharmoniker prägt seit Jahren das Festival und die Akademie in Zermatt. Das ist auch in diesem Jahr nicht anders. Gäste sind neben Wegener und Holliger der britische Pianist Steven Osborne, das Quatuor Sine Nomine und Noah Bendix-Balgley, der Konzertmeister der Berliner Philharmoniker. Wenig überraschend steht Beethovens Musik zentral in den Programmen. In drei Konzerten präsentieren die Nachwuchsmusiker die Ergebnisse ihrer Studienwoche mit dem Scharoun-Ensemble. Am Fr, 18.9., öffnet es sich den Kollegen des Pop-Festivals Zermatt unplugged, das abgesagt werden musste: Zu Gast sind der deutsche Liedermacher Philipp Poisel und der Schweizer Bluesmusiker Philipp Fankhauser mit Quintett.
So, 10.9.–Sa, 19.9.
www.zermattfestival.com