Am Ende kochen alle bloss mit Wasser, und in ihrem Topf schwimmen sogar dieselben Zutaten: Die Rede ist von den Schweizer Klassikfestivals und ihren Stars. Lea Desandre singt – als neue Cecilia Bartoli angekündigt – in Luzern. Und kurz zuvor in Gstaad. András Schiff tritt dank seinem eifrigen Manager im Sommer gar in Klosters, Ernen, Gstaad und Verbier auf. Julia Fischer spielt in Gstaad und Boswil, Jan Lisiecki in Gstaad und St. Moritz. Lahav Shani dirigiert in Luzern und Verbier, Klaus Mäkelä ebenfalls.
Die Aufzählung des halben Dutzend Festivals zeigt, dass die Veranstalter neben dem Präsentieren von Stars anderes machen müssen, um sich zu unterscheiden. Alpen- und Landfestivals haben dabei bereits einen Trumpf in der Hand: Die Idylle macht ein Konzert bisweilen ohne viel Zutun zum Ereignis – die Musik erweitert hier das Ferienvergnügen.
Die Konkurrenz beflügelt die Festivals
Ein Klaviertrio in der Kirche Ernen hören, danach über den Friedhof hinweg hinauf in die Berge schauen, im mit dem Wakkerpreis geehrten Dorfkern eine Walliser Spezialität essen – das macht den Festspielgast glücklich. Allerdings geht solcherlei Zauber auch in Luzern, zumal das KKL für viele Auswärtige auch nach 25 Jahren eine Attraktion ist. Michael Haefliger, Intendant des Lucerne Festival, sagt denn auch: «Die Kühe stehen nicht vor dem KKL, aber die Schönheit unserer Stadt mit See und Bergen ist dennoch kaum zu übertreffen.» Er fühlte sich früher als Gast in Luzern jeweils wie in den Ferien, versank in der Musik.
Es ist vielleicht eine Geldfrage. Für den Preis gewisser Luzerner Sinfoniekonzert-Parkettkarten erhält der Festspielgast in Ernen Hotel, Konzertkarte und ein kleines Abendessen. Die Konkurrenz beflügelt die Festivals – ob mit Dampfer oder coolem Segelboot. Es entstehen da wie dort Konzertformate, Reihen- und Nebenveranstaltungen. Rohrkrepierer gehören dazu.
In Gstaad steht ein Wandel an
Vor allem Luzern und Gstaad sind in diesen Jahren bemüht, in grossen Tönen vom Neuen zu sprechen; die Kleinen, wie etwa das Davos Festival, machen das laut und vergnügt. Die Stichworte sind da wie dort die gleichen: Partizipation, Gratis-Konzerte, Gewinnen von neuen Hörerinnen und Hörern, Aufbrechen der Strukturen. Zugegeben: Vieles ist nicht im Hauptprogramm, ein Grossteil der Konzerte muss so funktionieren wie eh und je. Wer grosse Säle oder Zelte füllen muss, kann nicht dauernd Experimente wagen.
«Die Anzahl der neuen Formate liegt in Gstaad bei etwa 20 Prozent», sagt Christoph Müller, künstlerischer Leiter des Gstaad Menuhin Festivals. Wenig? Jedenfalls sind sie sehr wichtig, ja entscheidend. Im Editorial des eben erschienenen Generalprogramms schreibt Müller, dass die Festivals ohne die neuen Formate, ohne gravierende Veränderungen und Anpassungen an den Zeitgeist, keine Zukunft haben: «Um Relevanz zu haben, müssen wir eine gewisse Konsequenz und Radikalität im künstlerischen Ausdruck zeigen. Wir brauchen neue Konzertformen, neue Formate, neue Ausdrucksweisen, neue musikalische Sprachen, um mit unserem kulturellen Auftrag breitenwirksam zu handeln und dabei immer wieder neue Menschen anzusprechen.»
Müller ist es ernst, sein Dreijahresthema «Wandel» ist keine Alibiübung. So sagt er denn auch, dass es einen Wandel von Konzertformaten brauche, um neue Menschen langfristig abzuholen: «Für das klassische Konzertformat genügt es nicht mehr, den immergleichen Mustern und Routinen zu folgen.» Programmstile und Aufführungstraditionen würden sich transformieren, die Grenze zwischen E- und U-Musik werde fliessend. Somit werde es immer weniger «reine» Klassikkonzerte geben.
Breitenwirksamkeit ist nicht bei allen beliebt
Was ein Teil von Klassikgeniessern wohl nicht gerne hört, sind Christoph Müllers Worte, dass die Festivals eine Niederschwelligkeit und Breitenwirksamkeit nötig hätten. Zu gerne ist die Klassikgemeinde in feiner Seide und mit perlendem Champagner unter sich. Doch indirekt sagt Müller auch, dass ihre Riten – Kleiderordnung, Applaus-Gewohnheiten oder Ein- und Auslass – diskutiert werden müssen. In Ernen kann man mit den Wanderschuhen ins Konzert, in Verbier fällt auf, wer eine Krawatte trägt.
Mit den Konzertformaten der geigenden Ausdruckskünstlerin Patricia Kopatchinskaja hat das Menuhin Festival 2023 einen Schritt in die Zukunft gewagt. Dass der im Sommer gezeigte «Pastorale» Abend dramaturgisch schlecht war, heisst nicht, dass dieses Format keine Zukunft hat.
Am Verbier Festival gibts auch Jazz und Folk
Auch das Lucerne Festival ist im Wandel, ist bemüht um eine Öffnung. Mit dem Sommerfestivalthema «Neugier» lässt sich bestens Werbung für die Neue Musik machen. Und als Igor Levit für das Klavierfest im Mai den Rapper Danger Dan einlud, kam prompt ein anderes, jüngeres Publikum ins KKL.
Gern unterschätzt wird das Verbier Festival, das dritte der grossen Schweizer Festivals: Im Abendprogramm gibt es da durchaus Jazzstars, Weltmusik und Folk kommen hinzu, gelesen wird auch, Kinderkonzerte sind normal, nachts geht man in den Club, wo Klassikstars völlig frei aufspielen. Und ein Strassenmusikfestival war Verbier schon eh und je.
Da wie dort: Die Festivalwelt ist im Wandel, muss sich wandeln. Einerseits. Andererseits feiert sie champagnerperlend das Immerselbe – und die Immergleichen.
Klassikfestivals im Sommer – eine Auswahl
Musikdorf Ernen
Ab Fr, 28.6.
www.musikdorf.ch
Gstaad Menuhin Festival
Fr, 12.7.–Sa, 31.8.
www.gstaadmenuhinfestival.ch
Verbier Festival
Do, 18.7.–So, 4.8.
www.verbierfestival.com
Engadin Festival
Sa, 27.7.–Fr, 9.8.
www.engadinfestival.ch
Davos Festival
Sa, 3.8.–Sa, 17.8.
www.davosfestival.ch
Lucerne Festival
Di, 13.8.–So, 15.9.
www.lucernefestival.ch