Eigentlich hätte ich über mein Fernweh schreiben wollen: über dieses Sehnen, das an mir zerrte, und über diese Leichtigkeit, die mich überkam, wenn ich ihm nachgab. Sie stellte sich meist schon beim Einbiegen auf die Autobahn ein oder beim Passieren der Passkontrolle am Flughafen, wenn ich in damals noch handyloser Zeit für jedermann unerreichbar geworden war.
Darüber hätte ich gerne geschrieben, weil mich dieses Fernweh ein Leben lang begleitet und bis heute nicht losgelassen hat. Ich hätte darüber schreiben wollen, wie das in jungen Jahren war, als ich stets meinen Reisepass bei mir trug, um jederzeit aufbrechen und alles hinter mir lassen zu können. Notfalls haue ich ab und gehe als Kindermädchen nach Bagdad, sagte ich mir, wenn mir das Leben wieder mal um die Ohren flog und ich nicht wusste, wie es mit mir weitergehen sollte.
Zugegeben, es ist bei Gedankenspielen geblieben. In die Tat umgesetzt habe ich sie nie. Ich bin nie in Bagdad gewesen und habe auch nie einen Zug bestiegen, um irgendwo in der Fremde ein neues Leben anzufangen. Und eines Tages ist auch der Reisepass in der Schublade verschwunden. Aber an das Gefühl, das er mir gab, wenn ich ihn bei mir trug, erinnere ich mich bis heute. Noch immer liebe ich das Aufbrechen mehr als das Ankommen. Ich liebe Flughäfen und halte mich fürs Leben gern in grossen Hotels auf. Sie sind so etwas wie exterritoriales Gebiet, eine Art Asyl für Unbehauste, die nach einer vorübergehenden Bleibe suchen.
Ja, darüber hätte ich schreiben wollen. Doch in Zeiten von Reiseverboten, Grenzschliessungen und drohender Ausgangssperre schien es mir dann doch nicht das passende Thema zu sein. Vor ein paar Wochen gönnte ich mir noch ein Wochenende in Wien. Dann schnappte die Corona-Falle zu. Und nun sitze ich fest, eingesperrt in meinen vier Wänden. An Ausbruch ist nicht zu denken. Was bleibt, sind die Gedankenspiele und die kleinen Fluchten, die keiner Züge oder gar Flugzeuge bedürfen. Es ist die Musik, die mich der Eintönigkeit des Alltags entrückt, und es sind die Bücher, alte wie neue, die mich eintauchen lassen in fremde Welten. In den letzten zwei Wochen war dies Assia Djebars vor Jahren erschienener Roman «Fantasia», der auf höchst eigenwillige Weise den Befreiungskampf des algerischen Volkes mit der weiblichen Selbstermächtigung der Autorin verbindet. Zudem Lutz Seilers neues Buch «Stern 111», das meisterhaft den Zustand zwischen Aufbruch, Anarchie und Ernüchterung unmittelbar nach dem Mauerfall beschreibt. Und das jüngste Werk meiner amerikanischen Lieblingsautorin Elizabeth Strout, «Die langen Abende», das an ihren früheren Roman «Mit Blick aufs Meer» anknüpft und mir ein Wiedersehen mit der unvergleichlichen Olive Kitteridge beschert.
Die Liste wird länger werden, je länger die Krise dauert. Schon bieten Opernhäuser und Konzertveranstalter Streaming-Dienste an, digitale Plattformen für Kulturschaffende sind im Entstehen, und die Buchhandlungen liefern die online bestellten Bücher per Post oder Velo-Kurier aus. An Stoff für meine kleinen Fluchten wird es mir also nicht mangeln. Doch woher nehme ich jetzt jene wunderbare Leichtigkeit, die früher meine grösseren und kleineren Fluchten begleitet hat? Es gibt keine Autobahn mehr, auf die ich einbiegen, keine Passkontrollen, die ich passieren könnte. Das Niemandsland ist in weite Ferne gerückt, exterritoriales Gebiet unerreichbar geworden. Ich bin auf mich selbst zurückgeworfen, konfrontiert mit dem Wissen um die Endlichkeit des Lebens und die Verletzlichkeit der menschlichen Existenz.
Am 11. April werde ich 80 Jahre alt. Früher tröstete ich mich mit dem untrüglichen Gefühl, sehr alt zu werden, über sporadisch auftretende Existenzängste hinweg. Doch nun, da ich tatsächlich alt bin, womit tröste ich mich jetzt? Was trägt mich? Wo finde ich Halt? Eine bald 90-jährige Freundin sprach mir unlängst am Telefon von ihrem Gottvertrauen, das ihr Sicherheit gebe. Ich habe es ihr abgenommen. Ich kenne ihre tiefe Frömmigkeit und weiss, dass sie sich gehalten fühlt in Gottes Hand. Woran aber hält sich ein Mensch wie ich, der diesen Glauben nicht hat? Oder anders gefragt: Woran habe ich mich bisher gehalten, wenn ich nicht weiter wusste und spürte, wie der Boden unter meinen Füssen ins Wanken geriet? Ja, es gab da etwas, aber es ist schwer in Worte zu fassen. Es war die Gegenwart meiner Mutter, die mir abends an meinem Bett die Gewissheit gab, dass alles gut wird. Es war die Stimme meines Vaters, der mir mit seinem «Es chunt, wies muess» eine Sicherheit vermittelte, die ich nicht zu hinterfragen brauchte. Diese beiden Menschen gaben mir etwas auf meinen Lebensweg mit, das bis heute hält. Man könnte es wohl am ehesten als ein Grundvertrauen ins Leben bezeichnen. Ein besseres Wort weiss ich nicht. Aber ich spüre es jetzt manchmal, nicht immer, wenn ich in die Zukunft schaue. Ich bin mir sicher, dass die Krise unabsehbare Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft haben wird. Und ich bin mir bewusst, dass mein Leben unter Umständen bald zu Ende sein kann. Ich wusste es schon immer, theoretisch, jetzt aber ist es konkret. Es ist uns nur geliehen, dieses Leben, zu meinen, wir verfügten darüber, ist eine Illusion.
Wenn es mir dennoch gelingt, gelassen zu bleiben und mir etwas von der Leichtigkeit zu bewahren, die einst mit den grossen Aufbrüchen einherging, dann verdanke ich es diesem Grundvertrauen ins Leben, das mich seit frühester Kindheit begleitet. Die Stimme meines Vaters, die Präsenz der Mutter an meinem Bett, mehr als diese Erinnerung habe ich nicht. Es muss reichen, um der Arglist der Zeit zu begegnen.
Klara Obermüller
Klara Obermüller ist 1940 in St. Gallen geboren und in Zürich aufgewachsen. Sie hat deutsche und französische Literatur in Zürich, Hamburg und Paris studiert. Als Journalistin hat sie beim «Du», bei der NZZ, der «Weltwoche» und beim Schweizer Fernsehen gearbeitet, seit 2002 ist sie pensioniert. Klara Obermüller ist weiterhin als Rezensentin, Moderatorin, Referentin und Autorin tätig. Soeben ist ihr neustes Buch «Die Glocken von San Pantalon – ein venezianisches Tagebuch» im Xanthippe Verlag erschienen.