«Ecoutez-moi!», ruft die rot gekleidete Dame mit dem tränenüberströmten Gesicht dem Betrachter des Bildes (oben) zu. Auf dem Aquarellbild «Rosa Marbach als Lady» bezeichnet sich die Art-Brut-Künstlerin Marbach als «Bänkelsängerin», «Tierbändigerin» oder «Circusleiterin». Träume, die sich in der Psychiatrie kaum verwirklichen liessen; seit ihrem 24. Lebensjahr war sie dort wegen Schizophrenie in Behandlung. Rosa Marbach (1881–1926) ist eine von rund 250 Dichterinnen und Dichtern, die Roger Perret in seiner Anthologie «Moderne Poesie in der Schweiz» versammelt. Wobei man sich bei Marbachs Werk fragen kann, ob es sich tatsächlich um ein Gedicht handelt. Aber Perret schert sich nicht um Konventionen herkömmlicher Anthologien und hat eine ungewöhnliche Auswahl getroffen – von Wort-Bild-Arbeiten über lyrische Prosa bis zu Mundartgedichten und sogar Songtexten.
Besonders in den Anfängen der modernen Lyrik ist er häufig bei Texten fündig geworden, die in Psychiatrien entstanden sind. Hierzu gehören die eindringliche Bildpoesie einer Rosa Marbach genauso wie die Werke von Robert Walser oder Adolf Wölfli. Künstler wie Paul Klee liessen sich von ihrer Art Brut, die durch ihre archaische Kraft oft quer in der Landschaft stand, inspirieren. «Wölfli mischte in seinen Texten Mundart mit Hochdeutsch, erfand eigene Wörter – es war ein Aufbruch zu neuen Ufern», sagt Perret.
«Zwitschernde Dinge»
Eine weitere Besonderheit von Perrets Anthologie ist die thematische Gruppierung: Die Kapitel sind nur vage chronologisch geordnet und bilden vor allem eine inhaltliche Einheit. «Papierschlösser in Weiss» oder «Die zwitschernden und leuchtenden Dinge», heissen sie und erschliessen der Leserschaft neue Blickwinkel. Jedes Kapitel entfaltet so seinen eigenen Ton und beleuchtet ein Sujet aus unterschiedlichen Perspektiven.
Im Kapitel «Liebesgerümpel, Scherbenglück» ist etwa das Gedicht «Leben wir» der Genfer Autorin Edith Boissonnas (siehe oben) zu finden. Darin wirft sie die Frage auf, welche Orte und Begegnungen uns am Ende des Lebens in Erinnerung bleiben. Die Lyrikerin, die lange in Paris lebte und ihre Gedichte bei Gallimard veröffentlichte, ist in der Schweiz nahezu unbekannt. «Ihre Gedichte unterscheiden sich von Werken anderer Westschweizer Lyriker, weil sie nicht wie diese den ‹hohen Ton› pflegt», erklärt Perret. «Sie zeichnen sich durch eine Poesie der Fremdheit und der Entfremdung aus – in einer genauen, musikalischen Sprache.» Boissonnas wird im Kapitel in Verwandtschaft gesetzt mit Werken von Erika Burkart oder Agota Kristof, die sich ebenfalls dichterisch mit dem schwindenden Leben befasst haben.
So ungezwungen Perret mit der Chronologie umgeht, so offen ist er auch bei der Auswahl. So hat etwa auch Rilke Eingang gefunden, da er längere Zeit in der Schweiz gelebt und in einem Gedicht von der Walliser Landschaft schwärmt.
Alle vier Sprachregionen kommen zum Zug – ebenso wie Texte von Aus- und Eingewanderten. Über 100 Gedichte wurden für diesen Band neu übersetzt, den Perret im Auftrag des Migros-Kulturprozent realisierte. Sie sind jeweils in Originalsprache und Übersetzung zu lesen – von Spanisch über Jiddisch bis zu Albanisch.
Es klingt und schwingt
Und so klingt und schwingt es zwischen den Zeilen – und das nicht erst im letzten Kapitel «Gäge d Bärge singeni aa», in dem Songtexte von dichtenden Sängern wie Mani Matter oder Sophie Hunger den lyrischen Blick auf die Musik ausweiten. Entstanden ist ein über 600-seitiges Monsterwerk – aber eines, das seine Leichtigkeit behalten hat. Diese Klanglandschaft lässt sich kreuz und quer durchwandeln, und an jeder Ecke wartet ein alter Bekannter oder eine Neuentdeckung.
Buch
Moderne Poesie
in der Schweiz. Eine Anthologie von Roger Perret
640 Seiten,
40 Abbildungen
(Limmat Verlag 2013).
Verlosung siehe Seite 5
Buchvernissage
Do, 5.12., 19.30 Migros-Hochhaus am Limmatplatz Zürich
Roger Perret, Leiter Darstellende Künste/Literatur Migros-Kulturprozent
«Abweichungen vom üblichen Lyrikbild»
kulturtipp: «Poesie ist etwas / was danebensteht», heisst es in einem Gedicht von Manfred Gilgien. Wie definieren Sie moderne Poesie? In Ihrer Anthologie ist die Bandbreite ja sehr gross ...
Roger Perret: Dieses Danebenstehen abseits einer starren Begrifflichkeit war schon ein Ziel. Man merkt, dass Anfang des 20. Jahrhunderts etwas passiert ist: Es klingt anders als im 19. Jahrhundert, als man sich noch an fixen Formen und Sujets orientiert hat. Zur modernen Lyrik gehört eine Sprachskepsis. Die Gedichte sind weder pathetisch noch sentimental; sie sind gebrochen, das lyrische Ich hat nicht mehr alles im Griff. Es gibt dazu verschiedene Ansätze, und diese Bandbreite habe ich versucht abzudecken.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Auswahl getroffen?
Einerseits gab es eine gewisse Einschränkung durch die finanziellen Mittel. Wir konnten etwa nicht alle Texte neu übersetzen lassen. Abgesehen davon war es eine subjektive Auswahl, das Gedicht musste mich ansprechen, auch aus literaturkritischem Blick. Die Zielrichtung war der karge Ausdruck, die Verdichtung. Ich wollte Abweichungen vom üblichen Lyrik-Bild bringen. Frühere Lyrik-Anthologien sind mir zu traditionell, ich vermisse darin etwa die moderne Poesie vor der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Fündig wurde ich bei Art-Brut-Künstlern und dichtenden Malern, die sich nicht auf die Tradition bezogen. Qualität ist natürlich ein dehnbarer Begriff. Wenn Adolf Wölfli 20-mal «Zorn» schreibt, kann man sich fragen: Ist das ein gelungenes Gedicht? Aber es gibt eine grosse Vielfalt in der modernen Poesie und es ist schön, wenn diese Frage zur Diskussion steht. Leser, mit einem klassischen Begriff von Lyrik, empfinden den Band vielleicht als zu provokativ.
Sie ordnen die Gedichte lose nach Themengebieten. Wie entstanden diese Kapitel?
Die Gedichte lassen sich zum einen aus literaturhistorischer Sicht ordnen. Dann gibt es aber auch Verflechtungen unter den Texten, die sich erst allmählich erschliessen, etwa durch ein bestimmtes Sujet wie «Weg» oder «Alter». Es war manchmal magisch, wie ein Kapitel entstanden ist. Wir bringen nicht einfach chronologisch ein Gedicht nach dem andern, sondern lassen dem Gedicht Raum zum Atmen. Durch die Verflechtungen ergeben sich eine musikalische Struktur und ein Rhythmus.
Wo haben Sie die lyrischen Schätze gefunden?
Das Buch ist im Rahmen meiner langjährigen Arbeit als Publizist und Literaturförderer bei Migros-Kulturprozent entstanden, bei der ich die Werke vieler Dichterinnen und Dichter entdeckt habe. Viel Vorarbeit habe ich beim Hörbuch «Wenn ich Schweiz sage ...» geleistet, für das ich mit Ingo Starz Schweizer Lyrik im Originalton ab 1937 gesammelt habe.