kino Die Geschichte hinter dem Film
Steven Spielbergs Film «Lincoln» basiert auf der Biografie der US-Autorin Doris Kearns Goodwin. Die Lebensumstände des jungen Lincoln tragen viel zum Verständnis des Films bei.
Inhalt
Kulturtipp 04/2013
Rolf Hürzeler
Sie zogen von einer heruntergekommenen Farm zur nächsten. Vater Thomas Lincoln, ein Analphabet, suchte allenthalben Arbeit – oftmals vergeblich. Nach ein paar Wochen ging die Reise für die dreiköpfige Familie jeweils weiter durch die Weiten des Südstaates Kentucky. Sohn Abraham Lincoln wuchs in materieller Not auf; als er neun Jahre alt war, starb seine Mutter. Diese Kindheit bestimmte seinen Gerechtigkeitssinn.
Die frühen Lebensphasen von Abraham Lincoln h...
Sie zogen von einer heruntergekommenen Farm zur nächsten. Vater Thomas Lincoln, ein Analphabet, suchte allenthalben Arbeit – oftmals vergeblich. Nach ein paar Wochen ging die Reise für die dreiköpfige Familie jeweils weiter durch die Weiten des Südstaates Kentucky. Sohn Abraham Lincoln wuchs in materieller Not auf; als er neun Jahre alt war, starb seine Mutter. Diese Kindheit bestimmte seinen Gerechtigkeitssinn.
Die frühen Lebensphasen von Abraham Lincoln helfen mit, den grandiosen Spielfilm von Steven Spielberg zu verstehen. Denn der Film konzentriert sich lediglich auf die letzten vier Wochen Lincolns, bevor er dem Attentat zum Opfer fiel. Die US-amerikanische Biografin Doris Kearns Goodwin liefert in ihrem Buch «Team of Rivals» den Hintergrund für Lincolns späteren politischen Kampf, der sich keineswegs nur auf die Sklavenfrage wie in Spielbergs Film bezog.
Zwei soziale Modelle
Der Zwist um die Sklavenfrage zwischen den Sezessionisten und der Union war der Auslöser des Bürgerkriegs von 1861 bis 1865. Aber eben nur Auslöser, wie die Lektüre von Goodwins Biografie zeigt. Tatsächlich standen sich zwei soziale Modelle gegenüber – eine konservativ, autokratische Gesellschaftsordnung im Süden und ein liberales, zusehends industrialisiertes Staatswesen im Norden. Obwohl aus dem Süden stammend, setzte sich Abraham Lincoln als Politiker im nördlichen Illinois für das fortschrittliche Gesellschaftsmodell ein: Dazu gehörten eine «nationale Wirtschaftspolitik mit einer Zentralbank und der forcierte Ausbau der Infrastruktur» (Goodwin), um den Transport von Produktionsgütern zu erleichtern, sowie ein ausgebautes Schulwesen.
Aus heutiger Sicht verwirrlich war die Handelspolitik: Der Norden wollte seine aufstrebende Industrie vor der britischen Konkurrenz schützen und verlangte nach Schutzzöllen, der Süden wollte seine Agrarprodukte, vor allem die Baumwolle, im Freihandel exportieren.
Geburt des Lobbyismus
Lincoln würde man heute als liberalen Zentristen bezeichnen. Er war kein Radikaler, im Gegensatz etwa zu seinem Rivalen William Henry Seward, der bei der Präsidentschaftskandidatur im Mai 1860 Favorit war und von Lincoln überraschend geschlagen wurde. Seward stand in der Tradition der liberalen britischen Whigs und vertrat deren linken Flügel. Goodwin belegt die taktische Raffinesse Lincolns, Seward nach dem Wahlsieg als Staatssekretär in sein engstes Regierungsteam aufzunehmen. Der Schauspieler David Strathaim spielt seine Rolle als Seward im Film ein bisschen farblos.
Goodwins Buch belegt auch die Entwicklung des Lobbyismus in Washington, der aus europäischer Sicht oftmals wichtiger erscheint als die Partei-Loyalität: US-Politiker in der Provinz waren im 19. Jahrhundert auf persönliche Loyalitäten in der Kapitale angewiesen, um auf nationaler Ebene wahrgenommen zu werden. Denn in diesem riesigen, teils nur marginal erschlossenen Land war der Aufbau von Parteistrukturen in jener Zeit praktisch ausgeschlossen.