kulturtipp: Während Corona hiess es, dass der Schweizer Kinolandschaft ein Kahlschlag drohe. Wie ist die Lage heute?
Edna Epelbaum: Die meisten Kinobetriebe haben überlebt, nur wenige mussten schliessen.
2022 gingen 15 Säle zu, im kommenden Juli muss das Küchlin in Basel dichtmachen, und auch in Zürich schliessen zwei Kinos.
Ja, aber da, wo das Licht für immer ausging, kann man nicht alles auf Covid schieben. Tatsache ist auch, dass die staatliche Hilfe für viele gerade mal gereicht hat, um sich über Wasser zu halten.
Was bedeutet das?
Dass die Reserven nun wieder aufgebaut werden müssen. Ausserdem sollten Investitionen, die schon 2020 angestanden wären, nachgeholt werden. Viele Säle brauchen eine Renovation, und bei der Digitalisierung muss nachgerüstet werden. Aber ich bin optimistisch: Weil wir Kinobetreiber und -betreiberinnen alle in einem KMU tätig sind, liegt uns der Drang zu überleben im Blut.
2019 gingen in der Schweiz knapp 13 Millionen Menschen ins Kino. 2022 wurden nach zwei Ausfalljahren wieder 9 Millionen gezählt. Was braucht es, um die Zahlen vor Corona zu erreichen?
Man darf nicht vergessen, dass die Coronamassnahmen erst im März 2022 zu Ende gingen, also auf dem Papier, aber noch nicht in den Köpfen. Ich habe immer gesagt, dass 2022 und 2023 Übergangsjahre sein werden. Die grosse Herausforderung wird nun darin bestehen, die Balance zwischen Hollywoodfilmen, Art- house-Produktionen und lokalem Filmangebot wieder herzustellen.
Was heisst das?
2020 ist mit den Lockdowns alles zusammengebrochen. Die Produzenten gingen mit ihren Filmen zu den Streamingdiensten, und niemand wusste, wie viel es sich noch zu investieren lohnt und wann die Kinos wieder öffnen würden. Aus den jüngsten Statements der Hollywoodstudios lese ich nun aber heraus, dass alle in den Kinomarkt zurückwollen. Warner, Paramount oder Universal haben sich verpflichtet, ihre nächsten Filme zuerst in den Sälen zu starten, weil sie wissen, dass das ihre beste Plattform ist.
Am letzten März-Wochenende gingen in der Schweiz 117 000 Zuschauer ins Kino – 30 000 mehr als im selben Zeitraum 2019. Grund zum Jubeln?
Man muss solche Vergleiche mit Vorsicht geniessen, es spielen immer viele Faktoren rein – das Filmangebot, das Wetter und was nebenher noch läuft. Aber wir sind tatsächlich auf guten Wegen.
Warum?
Weil zuletzt nicht nur einzelne Blockbuster wie «Avatar: The Way Of Water» an der Kinokasse funktioniert haben, sondern verschiedene Filme ihr Publikum wiederfinden. Damit meine ich nicht nur Schenkelklopf-Komödien, sondern etwa auch einen nicht einfachen Schweizer Film wie «Unrueh» von Cyril Schäublin. Oder dass sich «Peter K.» über jenen amoklaufenden Rentner aus Biel gerade dort als Blockbuster entpuppte.
Ein Blick in die Statistik: Seit Jahren sinkt der Anteil von Kinobesuchern in den Städten, während er auf dem Land steigt. Wie kommt das?
Weil Multiplexe zuletzt vor allem in der Agglomeration gebaut wurden – in Ebikon, Spreitenbach oder Muri.
1999 öffnete im aargauischen Schöftland das Cinema 8 mit 160 Plätzen. Heute gibt es dort fünf Säle mit 1200 Plätzen und dazu Restaurants, Bowlingbahnen, Escape-Rooms und eine Kartbahn. Liegt die Zukunft des Kinos im Vergnügungspark?
Schöftland ist ein gutes Beispiel für eine Einzelperson, die alles über die Jahre auf- und ausgebaut hat. Tatsächlich ist es so, dass man heute neue Kinos einbetten muss, das Umfeld muss stimmen. Es würde ja niemand mehr ein Einzelsaal-Kino eröffnen.
Haben jene Einzelsaal-Kinos, die es vor allem auf dem Land gibt, noch eine Zukunft?
Ja. Erstens ist die Schweizer Kinolandschaft im Vergleich zu andern Ländern einzigartig. Man kann sagen: Wo eine Kirche steht, steht auch ein Kino. Zweitens haben sich viele Kleinund Kleinstkinos in der Romandie zu Kooperativen zusammen- geschlossen. Das funktioniert dank viel Freiwilligenarbeit und der Unterstützung der Gemeinden, die ein Interesse daran haben, dass solche Begegnungsund Kulturorte weiter bestehen. Von diesem Erfolgsrezept sollte die Deutschschweiz lernen, vor allem deshalb, weil bei vielen Betrieben eine Nachfolgeregelung ansteht. Es braucht aber auch einen kulturpolitischen Wandel.
Inwiefern?
Wenn man weiterhin die Vielfalt des Schweizer Films geniessen will, muss die Kinolandschaft in die Förderkultur miteinbezogen werden. Diese Chance gilt es jetzt zu packen und in die Kulturbotschaft 2025 bis 2028 einfliessen zu lassen.
Letztes Jahr liefen 460 Filmpremieren in den hiesigen Kinos an. Ist das nicht zu viel des Guten?
Die Zahl ist hoch, einverstanden, aber das hat mit der Digitalisierung zu tun. Früher kamen die Filmrollen zuerst in die grossen Städte, danach folgten alle übrigen Orte. Heute startet ein Film fast überall gleichzeitig, und die «Lebensdauer» ist kürzer geworden. Was ich allerdings feststelle: Wenn ein Film das Publikum interessiert, merkt mandas immer schon in der ersten Woche. Und wenn er den entscheidenden «Gap» von drei Wochen überlebt, bleibt er wie der Oscarsieger «Everything Everywhere All at Once» praktisch ewig im Programm.