Kinder als gequälte Erwachsene
Lewis Hine hat zu Beginn des letzten Jahrhunderts das soziale Elend seiner Heimat dokumentiert. Das Fotomuseum Winterthur zeigt nun 170 Fotografien des Moralisten.
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Kulturtipp 12/2013
Rolf Hürzeler
Sie ist ein Kind, das aussieht wie eine Erwachsene, vom Schicksal gezeichnet. Der US-Fotograf Lewis Hine (1874–1940) hat das Bild 1913 in einer Spinnerei in Neuengland aufgenommen. Als passionierter Fotograf wollte er das soziale Elend der Vereinigten Staaten dokumentieren. Sein Hauptanliegen war der Kampf gegen die Kinderarbeit.
Zeugnisse seiner Zeit
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Kinderarbeit in den USA und in Europa weit verbreitet. Über 1,7...
Sie ist ein Kind, das aussieht wie eine Erwachsene, vom Schicksal gezeichnet. Der US-Fotograf Lewis Hine (1874–1940) hat das Bild 1913 in einer Spinnerei in Neuengland aufgenommen. Als passionierter Fotograf wollte er das soziale Elend der Vereinigten Staaten dokumentieren. Sein Hauptanliegen war der Kampf gegen die Kinderarbeit.
Zeugnisse seiner Zeit
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Kinderarbeit in den USA und in Europa weit verbreitet. Über 1,7 Millionen Kinder sollen nach einer Volkszählung vor dem Ersten Weltkrieg in den USA Lohnarbeit geleistet haben. Die Folgen waren fatal: Sie verpassten den Schulunterricht und blieben zum Teil Analphabeten. Zudem schufteten sie bis zu 60 Arbeitsstunden in der Woche. Den kärglichen Lohn mussten sie ihrer Familie entrichten. Deshalb wurde 1904 das National Child Labor Committee (NCLC) gegründet mit dem Ziel, die Kinderarbeit zu unterbinden.
Hine kannte die wirtschaftliche Not aus eigener Erfahrung. In Wisconsin in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, verlor er seinen Vater früh. Er konnte sich aber zum Soziologen ausbilden lassen, arbeitete später als Lehrer und brachte sich das Fotografieren bei. Dann liess er sich vom NCLC anstellen. Bis 1917 dokumentierte er die Kinderarbeit auf mehr als 5000 Bildern. Oft gab er sich dabei als religiösen Prediger aus, um Zutritt zu den Fabrikhallen zu erhalten. Er hatte mit Repressionen der Unternehmer zu rechnen. Sie erkannten die politische Wirkung von Hines Bildern, die zu heftigen politischen Debatten über die Ausbeutung von Kindern führten. Die allerdings erst 30 Jahre später nach der grossen wirtschaftlichen Depression Wirkung zeigten: «Die Fotos, die zu neuen Arbeitsgesetzen führten», überschrieb die britische «Daily Mail» eine Fotoreportage über Hines Werk.
Unbequemer Kämpfer
Hine zog nach Europa und dokumentierte im Ersten Weltkrieg die Arbeit des Roten Kreuzes. Später sollte er in den USA noch einmal grosse Beachtung finden: Er erhielt den Auftrag, den Bau des höchsten Gebäudes der Welt zu dokumentieren, die Errichtung des Empire State Buildings in Manhattan. Seine Bildserie war spektakulär, und so kam es, dass man ihm das berühmteste Bild einer Baustelle zuordnete: «Lunch atop a Skyscraper» (links unten) mit Mohawk-Indianern und irischstämmigen Arbeitern auf einem Betonträger; es erschien 1932 in der «New York Herald Tribune». Wie sich später herausstellte, stammte es jedoch vom Fotografen Charles C. Ebbets, der den Bau des Rockefeller Centers dokumentierte. Angehörige der Bauarbeiter erkannten ihre Verwandten auf dem Bild.
Hine blieb zeitlebens ein unbequemer Kämpfer für eine bessere Welt. Gesellschaftliche Anerkennung blieb ihm versagt. Er starb 1940 verarmt und vergessen.
Lewis Hine
Sa, 8.6.–So, 25.8.
Fotomuseum Winterthur