Und dann sass ich im Kreis, streckte die Hand hoch und gab Frau Flury eine Antwort. Es war der erste Wendepunkt in meinem sechsjährigen Leben.
Man mag jetzt einwerfen, dass dies nichts, also wirklich überhaupt nichts Besonderes sei, so ziemlich alle hatten ihren ersten Schultag – und gleich von einem Wendepunkt zu sprechen? Übertrieben! Kindheit, Kindergarten, Schule. Linearer geht ein Lebenslauf ja nicht, wo soll denn hier bitteschön eine Wende sein?
Nun, nicht mein erster Schultag war der Wendepunkt. Ich meine etwas anderes. Aber ich spule am besten ein wenig zurück.
Ich war ein äusserst ruhiges Kind. Wenn stille Wasser tief gründen, dann tauchte ich zum Grund der verschwiegensten Ozeane. Und wenn Schweigen Gold ist, dann musste ich mir um Reichtum keine Sorgen machen. Anders gesagt: Ich hiess nicht Til, doch war ein Schweiger.
Natürlich gibt es viele zurückhaltende Kinder, das war soweit nichts Spezielles. Was bei mir aber aussergewöhnlich war: Mit meinen Eltern, meinen Brüdern, den Grosseltern oder auch den Nachbarskindern sprach ich, viel sogar und ausschweifend, ich erträumte Superhelden-Geschichten und teilte diese munter mit – ich beherrschte es durchaus, das Sprechen –, doch sobald mir eine Person fremd war oder ich sie nicht gut kannte, sagte ich kein Wort mehr, kein einziges.
Viele haben sich an ihr versucht, meiner Schweiger-Nordwand, doch manch einer ist daran beinahe verzweifelt – vor allem meine Eltern.
Ich erinnere mich an eine Szene beim Augenarzt. Ich nenne ihn an dieser Stelle Dr. Moser (hauptsächlich aus dem Grund, weil er wirklich so hiess). Während ich auf dem viel zu grossen Stuhl sass und mit einem abgedeckten Auge versuchte, die Richtungen der projizierten Buchstaben zu erkennen, übte meine Mutter Bestechungsversuche aus, von denen Fifa und IOC einiges hätten lernen können: «Kilian, wenn du dem Herrn Moser sagst, was du siehst, dann gehen wir Glace essen, … darfst du nachher fernsehen, … kannst du dir in der Spielwarenabteilung etwas aussuchen.»
Erfolglos. Mein Mund und ich blieben verschlossen. Ich war derjenige, der eine Brille brauchte, doch meine Mutter «het’s nümme gseh». Mit letzten Geduldsfetzen konnte sie mich davon überzeugen, mit den Fingern zu zeigen, wohin die Buchstaben auf der Tafel blickten.
Ein Achtungserfolg, es war schon vorgekommen, dass ich gar nicht kooperierte und sie mit mir wütend oder enttäuscht oder erschöpft – wahrscheinlich alles zusammen – das Zimmer verliess. Meine Eltern probierten alles, damit ich mich öffnete. Sollte ich den Kindergarten wiederholen, um Zeit zu gewinnen, oder besser die Einführungsklasse besuchen?
Abklärungen ergaben aber, dass es nicht an der Intelligenz oder meiner Entwicklung lag und ich, kreatives und interessiertes Kind, das ich war, mich bei diesen Varianten langweilen würde. Was dann? Ultima Ratio: zum Therapeuten.
Hat aber nicht funktioniert. War auch nicht ganz durchdacht: «Was sollen wir tun? Unser Sohn spricht mit niemandem … Nun, er könnte ja mit jemandem darüber sprechen?!» Meine Verschwiegenheit hatte auch ihr Gutes. Da ich nur mit meinem innersten Kreis sprach und keine meiner Worte nach aussen drangen, konnten sich meine Eltern immerhin sicher sein: Aus mir würde nie ein Whistleblower.
Dann hiess es halt: sich damit abfinden. Hoffen. Das Beste daraus machen und schon mal Broschüren bestellen für Pantomimenschule oder Schweigekloster. (Wobei selbst dort hätten sich die Mönche vielsagend angeschaut, mit Blicken, die sagten: «Der Kilian, der ist aber still.»)
Und dann sass ich also im Kreis, streckte die Hand hoch und gab Frau Flury eine Antwort. Ich weiss nicht mehr, was ihre Frage war, in meiner ersten Schulstunde überhaupt, wahrscheinlich irgendetwas Altersgerechtes, wie: «Wer will mir seinen Namen sagen? » Oder: «Wer hat eine Lieblingsfarbe?» Oder: «Wie schätzt ihr Maggie Thatchers Neoliberalismus-Begriff in Bezug zur aktuellen Schweizer Wirtschaftslage ein?»
Was ich aber weiss, ist, dass ich von diesem Zeitpunkt an sprach, und zwar mit allen. Hinter dem Stuhlkreis aus Kindern standen in einem konzentrischen Halbkreis die Eltern und dachten wohl daran, wie schnell die Zeit vergeht, wie klein ihr Knirps da vorne gerade noch gewesen war, oder sie erinnerten sich an ihren eigenen ersten Schultag.
Doch meine Eltern dachten – wahrscheinlich – gar nichts, wahrscheinlich fiel von ihnen einfach nur eine immense Last ab, sie waren froh über dieses kleine Wunder. Es war der erste Wendepunkt in meinem Leben – buchstäblich eine Rede-Wendung.
Damals verstand ich noch nicht, welche Strapazen meine Eltern meinetwegen durchmachten, wie belastend meine Sprechverweigerung und ihr ungewisser Ausgang gewesen sein mussten. Heute bin ich ihnen dankbar, dass sie mich trotz allem immer bedingungslos unterstützten.
Erst Jahre später erklärte mir eine Logopädin, die mich noch aus der Kindheit kannte, dass sich dieses Verhalten «selektiver Mutismus» nennt. Von da an hatte ich eine Diagnose, als ich längst keine mehr brauchte. Gerne würde ich erläutern, warum ich mit niemandem ausserhalb meines nahen Umfeldes sprach. Und erst recht, warum ich plötzlich mit dem selektiven Schweigen aufhörte.
Auch würde ich gerne retrospektiv in mein Stillsein eine Haltung hineinprojizieren. Aber um ehrlich zu sein: Ich weiss es heute nicht, warum es so war. Und ich glaube, dass ich es auch damals nicht wusste. Ich war zurückhaltend, ohne zu wissen, was ich zurückhielt.
So anstrengend und frustrierend mein Mutismus für meine Liebsten gewesen sein muss, so sympathisch erscheint er mir heute, war mein Nichtssagen doch nicht nichtssagend. Mein Schweigen ermöglichte mir, genau zu beobachten.
Heute denke ich erst recht: Wer pausenlos spricht, hat gar keine Zeit, zuzuhören. Stärke und Lautstärke sind nicht das Gleiche, und die Lautesten haben oft nicht die leiseste Ahnung. Doch Stillsein, das habe ich gelernt, kann durchaus Stil haben.
Kilian Ziegler
Der Oltner Kilian Ziegler (* 1984) stürmt seit 2008 die Poetry-Slam- Bühnen im In- und Ausland und konnte bereits zahlreiche Slam-Siege einheimsen. Der Spoken-Word-Künstler gibt Workshops an Schulen, moderiert Veranstaltungen, schreibt Kolumnen und ist Mitbegründer der Lesebühne «Texte und so» in Zürich.
Seit 2013 tritt er mit dem Musiker Samuel Blatter auf Kleinkunstbühnen auf. Zurzeit ist das Slam-Kabarett-Duo mit dem dritten Programm «Geschickt » auf Tour. Am 21. Januar feiert Kilian Ziegler in der Schützi Olten Premiere mit seiner neuen Soloshow «99 °C – Wortspiele am Siedepunkt».