Aleppo, 1951. Vom Platz am Fenster ihres Zimmers, das auf das Franziskanerkloster im besser gestellten Muhafaza-Viertel blickte, konnte Marjam William sehen, wo immer er war. Sie sah ihn, wenn er mit seinem Freund Sam durch die Strassen und Bars streunte, wenn er das Haus seiner Tante Suad betrat und wenn er im Keller der Druckerei hockte und stundenlang mit Dschunaid Khalifa über die Manuskripte sprach, die bearbeitet und veröffentlicht werden sollten. Auch wenn er vor Sehnsucht weinte, sah sie ihn, und wenn er von drückenden Sorgen geplagt wurde, sah sie ihn; sie sah ihn als ein Wesen aus Materie, als eine Ansammlung von Emotionen, die in der Luft schwebten. Sein Bild war diffus, drang in ihre Poren ein; ihr Begehren nagte an ihr, wenn sie sah, wie er mit Hilfe anderer Frauen ihr Bild in seinen Wachträumen vervollständigte.
William war Marjams anderes Gesicht. Sie begriff, dass ihr Schicksal mit seinem verbunden war, genauso wie mit dem seiner Zwillingsschwester Aischa und seiner Tante Suad. Ihre persönliche Geschichte hatte den gleichen Sinn, vier Wesen, die den Tod hinters Licht führten, die die Narrative der anderen korrigierten, die ihr Leben planten und davon träumten, tausend Jahre alt zu werden. Erst dann würden sie vertrocknen, ihre Köpfe schrumpfen und ihre Körper sich auflösen, erst dann würden sie verschwinden. Sie würden zu dem Schluss kommen, dass die Toten einen Fehler begingen, wenn sie ihre Körper den Würmern überliessen. Sie redeten leidenschaftlich über alles, nur nicht über den Tod, gleichsam als gäbe es ihn nicht.
Anfangs geriet Marjam bei der Vorstellung, ihr ganzes Leben lang mit einem Mann verbunden zu sein, in Panik. Sie wusste selbst nicht, wie sie an diesem Mann, der nicht viel von ihr verlangte, hängen geblieben war. Aber sie genoss es, den Geschichten über seine skandalösen Liebesgeschichten, die man sich in der Stadt erzählte, zu lauschen. Er hingegen hatte die ständige Fragerei danach satt und lebte nur für Marjam, ihre persönliche Beziehung war niemals unterbrochen gewesen, und am Ende hatten sich beide in ihr Schicksal ergeben.
Marjam liess den heimlichen Liebesfaden, der sie mit William verband, niemals abreissen. Sie verspürte die Last der Zuneigung und ein Gefühl der Verantwortung für sein Leben, dessen Fäden sie in der Hand hielt. Ihr Treffen an jedem ersten Samstag im Monat liess sie ihre Eifersucht leichter ertragen, denn eigentlich wollte sie ihn nur für sich. Er war ihr Liebhaber, und sie war die ganze Zeit von dem tiefen Gefühl überwältigt, dass er alles zurückgelassen und sein Leben seiner Liebe zu ihr unterworfen hatte.
Heute erwachte Marjam in aller Frühe. Sie war vollkommen verschwitzt, ihr Körper zitterte vor Begierde und Sehnsucht nach William. Sie kannte diese deprimierenden Augenblicke und fürchtete sich davor, die Tür zu öffnen und wie eine Verrückte auf der Suche nach ihm durch die Strassen zu laufen. Wie immer ging sie ins Bad, legte sich in die steinerne Wanne und versank in kaltem Wasser, um ihr Feuer zu löschen. Sie schloss die Augen und dachte darüber nach, wie sie ihren Tag verbringen würde. Sie hatte es seit Wochen geplant.
Sie würde William sehen, sie wollte das neue Foto sehen und ihm sagen, dass er nicht auf sie warten solle, denn sie habe es satt. Dann würde sie zur Kirche gehen, denn heute gedachten die Armenier des Massakers, und sie würde den Erzbischof bitten, ihr ihre armenische Identität zurückzugeben. Sie wusste nicht, ob ihr das dabei helfen würde, ihre Lebensgeschichte zu revidieren. Was die Armenier sich über sie erzählten, kannte sie nur allzu gut, aber das kümmerte sie nicht. Sie wollte zum Gedenken an ihre Mutter, ihre Grossmutter und ihre Tante eine Kerze anzünden und die Suche nach Harut wieder aufnehmen. Es gab keinen Hinweis darauf, dass er tot war, bestimmt lebte er irgendwo in dieser weiten Welt. In den beiden letzten Wochen hatte sie viel nachgedacht. Das Bild von der muslimischen tugendhaften Ehefrau, das Orhan von ihr hatte aufrechterhalten wollen, war ihr nicht mehr wichtig. In einigen Jahren würde sie eine mustergültige Grossmutter sein. Ihre Kindheit verfolgte sie, liess sie nicht vergessen. Orhan war letztes Jahr gestorben, und die Trauerzeit war vorüber, sie hatte sein Vermächtnis erfüllt und ihn im Familiengrab neben seiner Mutter beisetzen lassen. Ihre morgendlichen Verpflichtungen hatten damit ein Ende gehabt. Sie war mit seinem Leichnam nach Istanbul gereist und hatte ihn der Familie übergeben. Zu den endlosen Beleidigungen von seiner Familie hatte sie geschwiegen.
Sie hatte es ertragen müssen, sich unter Leuten aufzuhalten, von denen sie die meisten nicht kannte, und in einem Zimmer zu schlafen, dessen Wände voller Orden und Fotos von osmanischen Soldaten hingen, von denen einer ihre Familie getötet und ihr Elternhaus angezündet haben könnte.
Ein ganzes Jahr war Marjam fortgeblieben, und nun stand sie schweigend vor William. Sie liess ihm genügend Zeit, sie eingehend zu betrachten, dann liess er sie in aller Ruhe in das Studio eintreten und sich auf den Stuhl setzen.
Khaled Khalifa
Khaled Khalifa wurde 1964 in Aleppo, Syrien, geboren. Er studierte Jura an der Universität Aleppo und war Mitbegründer und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift «Alif». Er ist Autor von zahlreichen Romanen und Drehbüchern für Kinofilme. Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller lebt in Damaskus. Der Roman «Keiner betete an ihren Gräbern» erscheint am 12. April bei Rowohlt ein grosses Syrien-Epos über eine Geschichte von Liebe und Gewalt. Es beginnt in einer Zeit, in der Moslems, Christen, Juden, Araber und Osmanen ohne Hass miteinander leben.