An einem Januartag im Jahr 1945 entschlossen sich die Deutschen zu einem Vorstoss über den Rhein bei Strassburg. An diese Geschehnisse konnte sich der US-Soldat Leonard Creo indes nur dunkel erinnern. Um nicht getötet zu werden, lief er von einer Stellung zur anderen und feuerte seine Bazooka auf die feindlichen Truppen ab wie jeder andere Soldat auch. Dann traf ihn eine Kugel in die Hüfte, und die Splitter einer Granate durchlöcherten sein Bein. Diese Episode schildert der Historiker Keith Lowe in seinem neuen Buch «Furcht und Befreiung – Wie der Zweite Weltkrieg die Menschheit bis heute prägt».
Der verletzte Soldat Creo erlebte das Kriegsende danach auf Long Island und wurde mit einem Orden ausgezeichnet, nachdem sein Kommandant von dem Einsatz am Rhein gehört hatte. Creo konnte sich in der Folge mit einer ordentlichen Veteranenrente ein gutes Leben leisten. Aber er glaubte in den Jahren nach dem Krieg stets zu wissen, dass etwas an seiner angeblichen Heldengeschichte nicht stimmte, konnte sich aber an die Details nicht mehr erinnern. Wenn er sie aus seiner vagen Sicht richtigstellte, wurde das nicht akzeptiert. Denn für die Amerikaner waren ihre Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg die Helden, die Europa befreiten – im Gegensatz zu den GIs später in Vietnam oder im Nahen Osten.
Der britische Autor Keith Lowe schildert in Episoden wie diesen die Verklärung in der Nachkriegszeit. Die Alliierten, aber auch die Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan beschönigten ihre Rolle und verklärten die Kriegsjahre in zahlreichen Heldengeschichten.
kulturtipp: Keith Lowe, es ist heikel, über das eben erst Geschehene zu schreiben. Jeder Befund hat ein aktuell politisches Gewicht.
Keith Lowe: Das stimmt, deshalb habe ich, wenn immer möglich, lebende Zeitzeugen befragt. Auch habe ich viel Material wie Tagebücher oder Memoiren aus Archiven zusammengetragen, um die Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis heute möglichst genau zu erfassen. Ich arbeite ähnlich wie die Kuratoren in einem Museum, die anhand von alten Objekten historische Epochen erkunden. Das sind bei mir subjektive menschliche Erinnerungen. Aber Sie haben recht, seinen eigenen Standpunkt kann man nicht herausnehmen.
So nehmen Sie dezidiert gegen den Brexit Stellung, auch wenn Sie die Gründungszeit der EU mit der Montanunion in den 1950er-Jahren entmystifizieren.
Die dachten damals niemals an ein vereinigtes Europa. Sie setzten vielmehr auf wirtschaftliche Eigenständigkeit gegenüber den Grossmächten und auf Deutschlands europäische Einbindung.
Ihr Hauptthema ist die «mythologische Erinnerung», die den Blick auf die Vergangenheit entstellt.
Jeder Staat, jede Gemeinschaft hat die Tendenz, die eigene Vergangenheit zu verklären. Dieses Phänomen steht auch in meinem neuen Buch über Kriegsdenkmäler im Fokus, an dem ich gerade schreibe. Diese Monumente haben wenig mit der Vergangenheit und viel mit der Gegenwart zu tun.
So entmystifizieren Sie beispielsweise die Gründung des Staates Israel.
Die heutige Vorstellung, dass die Überlebenden des Holocausts in Israel durchwegs willkommen waren, ist falsch. Besonders osteuropäische Juden hatten es in der unmittelbaren Nachkriegszeit schwer, gesellschaftliche Akzeptanz zu finden. Man wollte sie dort oftmals nicht.
Sie relativieren sogar die Rolle der Alliierten als Sieger im Zweiten Weltkrieg.
Unsere Vorstellung, dass diese überall als Befreier beklatscht wurden, ist idealisiert. Denn die Briten und die Amerikaner gingen mit der Zivilbevölkerung auf dem Kontinent nicht zimperlich um; es gab Übergriffe und Plünderungen. Zahlreiche Fälle von Misshandlungen sind belegt, als sie in Deutschland einmarschierten. In Westeuropa hat man diese Verbrechen lange Zeit nur den Russen angelastet. Trotzdem darf man nicht vergessen, dass die Amerikaner und die Briten vielerorts als Erlöser von der Unterdrückung der Nazis auf Begeisterung stiessen.
Sie halten auch die Vorstellung von der Neutralität für eine Illusion.
Die Schweiz hatte sich im Kalten Krieg etwas vorgemacht. Die Leute wollten nicht glauben, wie fest das Land im westlichen Bündnis verankert war. Sie hofften, ihre angebliche Neutralität würde sie im Fall eines offenen Konflikts zwischen Ost und West schützen. Die Schweizer nahmen auch ihre Stellung in Europa viel zu wichtig.
Die geschichtliche Erinnerung verändert sich laufend.
Genau, nehmen wir das Beispiel der britischen Flugangriffe auf Deutschland in den letzten Kriegswochen mit Tausenden von Toten. Diese flächendeckenden Bombardierungen waren unmittelbar nach dem Krieg völlig unbestritten. Vor 30 Jahren wurden sie als barbarisch und militärisch sinnlos angesehen. Heute sind sie wieder akzeptiert oder interessieren niemanden mehr.
Auch die Vorstellung von der Bedrohung verändert sich.
Am besten lässt sich dies anhand der Atombombe erklären. Unmittelbar nach den US-amerikanischen Nuklearangriffen auf Hiroshima und Nagasaki waren die meisten Menschen von der Kraft der Atombomben fasziniert. Im Kalten Krieg nahm die Angst vor der nuklearen Bedrohung laufend zu und führte Ende der 1950er-Jahre zur Anti-Atombewegung mit den Ostermärschen. Heute ist die Angst vor der Bombe weitgehend verdrängt. Dafür fürchten sich die Menschen vor Terroranschlägen.
Ein zentrales Thema ist die Schuldfrage, wie Sie am Beispiel eines japanischen Arztes in China ausführen.
Schuld ist sehr vielschichtig. Dieser japanische Mediziner führte Vivisektionen an chinesischen Kriegsgefangenen durch und akzeptierte seine Schuld lange nicht. Er behauptete wie alle Kriegsverbrecher, lediglich auf Befehl von oben gehandelt zu haben. Erst nach Jahren erkannte er die Tragweite seiner Verbrechen doch noch. Aber gleichzeitig merkte er, dass diese Schuld in Japan nicht gesellschaftskonform war. Denn dann hätten sich viele andere auch schuldig fühlen und ihre Verdrängung aufgeben müssen. Bekannt ist auch, dass sich viele Opfer nach dem Zweiten Weltkrieg als Täter sahen, weil sie überlebten. Oder ebenso schlimm: Viele alliierte Soldaten wurden nach dem Krieg als Helden gefeiert, fühlten sich aber als Mörder.
Buch
Keith Lowe
Furcht und Befreiung – Wie der Zweite Weltkrieg die Menschheit bis heute prägt
656 Seiten
(Klett Cotta 2019)