kulturtipp: Andris Nelsons, in den letzten fünf Jahren ist in Ihrem Künstlerleben so viel passiert wie bei keinem anderen Dirigenten. Wo sollen wir beginnen?
Andris Nelsons: Bei meinem Bauch vielleicht. Ich wurde in den letzten Jahren vor allem eines – dicker.
Lassen wir den Bauch, reden wir von einem der grossartigsten Konzerte der letzten 50 Jahre, dem Gedenkkonzert für Claudio Abbado in Luzern: Als Sie im April das erste Mal vor dem Lucerne Festival Orchestra standen, hatten Sie Angst?
Es war eine unheimliche Erfahrung zusammen mit einem tollen Orchester. Aber wir haben diese Gelegenheit nicht herbeigesehnt: Wir wünschten uns, dass Claudio noch leben würde! Ich kann deshalb nicht sagen, dass ich glücklich war, auch wenn wir toll geprobt hatten.
Was sagten Sie Ihrer Frau Kristine, als Sie zwei Tage danach zu Hause in Ihre Wohnung in Riga traten?
Ich sagte ihr, dass ich das emotionalste Konzert meines Lebens dirigiert hätte. Ich glaube, Claudios Geist war im KKL.
Nun kommen Sie zurück nach Luzern, dirigieren das erste offizielle Konzert mit dem Lucerne Festival Orchestra als Abbado-Nachfolger, als Nachfolger des Dirigenten-Papstes. Sie können nur verlieren.
Er war ein genialer Dirigent, keiner kann ihn ersetzen. Es gibt andere grosse Dirigenten – auch lebende. Schwierig ist es immer, sich mit ihnen zu vergleichen. Aber klar: Ich spüre Druck, den gibt es jedoch vor jedem Konzert. Ich kann nur versuchen, das Beste für die Musik zu tun – und sie zu geniessen.
Vielleicht verklären wir die Leistung Abbados und des Orchesters auch ein wenig und sollten das Wort «Abbado-Orchester» vergessen?
Nein, es war mit Claudio eines der besten Orchester der Welt! Jetzt spielen sie mit mir. Aber schauen Sie: Wenn diese Musiker mich nicht mehr wollen, dann werde ich sie auch nicht mehr dirigieren.
Nun werden Sie Chefdirigent in Boston. Ist das ein typisch amerikanisches, also perfektes Orchester, dem man sagen kann, was es tun soll – das Gegenteil des Abbado-Orchesters, einer Gemeinschaft von Individuen?
Sicher herrscht dort eine andere Mentalität, aber das Boston Symphony Orchestra ist eines der besten Orchester Amerikas – und auch eines der europäischsten.
«Europäisch» ist offenbar das grösste Lob für ein amerikanisches Orchester. Auch Franz Welser-Möst oder Zubin Mehta versicherten, dass ihre US-Orchester die europäischsten waren oder sind …
Die klassische Musik kommt nun mal aus Europa. Ich spürte in Boston: Die verstehen mich. Musik ist eine Fantasiewelt – da braucht es Flexibilität und Gefühl. Der Dirigent darf nicht Polizist sein. Ich organisiere zwar viel, aber lasse die Musiker spielen. Dahinter steckt immer Intellekt, doch ein Grossteil ist Emotionalität – das hat bei mir Priorität. Dirigieren hat nichts mit Mathematik zu tun. Gute Orchester sind wie japanische Häuser, sie sind auf Erdbeben vorbereitet: Wenn ich im Konzert etwas improvisiere, reagieren die Musiker. Die Bostoner wissen, dass ich mit ihnen in eine fantastische Welt eintauchen will.
Bei allem Respekt: Orchestermusiker schauen um 14.01 böse auf die Uhr, wenn die Probe nicht wie angekündigt um 14 Uhr zu Ende ist.
Die Arbeit mit einem Orchester hat viel mit Zeitmanagement zu tun. Ich bin nicht derjenige, der sagt: «Tut dies, macht das!» Kein Orchester mag es, wenn der Dirigent zu viel redet. Ich gebe Gefühle weiter, sage: «Folgt dem, folgt diesem! Braucht eure Fantasie!» Als Chefdirigent tritt man in eine Musikfamilie ein.
Wir sind bei der Psychologie gelandet. «Psyche» ist das Thema von Lucerne Festival im Sommer. Wie sehr muss ein Dirigent Psychologe sein?
Er muss ein sehr grosser Psychologe sein. Man kann auf 1000 Arten «bitte etwas schneller» sagen!
Ein steter Kampf, dass die Musiker machen, was der Dirigent will?
Wenn Sie irgendwo Chef sind, bekommen Sie ein gewisses Mass an Autorität. Aber das Orchester merkt sofort, ob es um Ihr Ego geht oder ob Sie etwas ehrlich meinen und musikalisch etwas zu sagen haben. Ich frage und bitte auf vielerlei Arten, und bekomme viele Dinge. Es ist Teamwork. Aber klar: Ich kann nicht dastehen und die Leute fragen, was sie wollen. In der Musik gibt es keine Demokratie, sondern nur Disziplin. Aber diese geht auf den Komponisten zurück, dem müssen wir folgen. Es geht nicht darum, was Andris Nelsons will.
Ist Ihnen als Konzertbesucher die Optik wichtig?
Ich blicke im Konzert immer auf den Dirigenten! Das ist technisch interessant: Was macht er wie? Das sieht man.
Andris Nelsons
Andris Nelsons wurde 1978 in Riga geboren. Nachdem er fünf Jahre als Trompeter im Opernorchester in Riga gespielt hatte, wurde er dessen Chefdirigent. Seit 2008 ist er Chefdirigent in Birmingham, nun leitet er das Boston Symphony Orchestra und gastiert bei allen grossen Orchestern und Festivals. Im August dirigiert Nelsons das Lucerne Festival Orchestra anstelle des verstorbenen Claudio Abbado.
Andris Nelsons am Lucerne Festival im KKL
Fr, 15.8., und Sa, 16.8.
Lucerne Festival Orchestra und Chor des Bayerischen Rundfunks
Fr, 22.8., und So, 24.8.
LFO und Maurizio Pollini
Sa, 30.8.
City of Birmingham Symphony Orchestra und Rudolf Buchbinder
So, 31.8.
City of Birmingham Symphony Orchestra und Klaus Florian Vogt
Karten: www.lucernefestival.ch