«Hier sind die Gärten. Es sind die Gärten des Jahres 1943. Noch blüht der Phlox, Rosen blühen, Astern und Dahlien.» So beginnt der Roman des Bieler Autors Jörg Steiner (1930–2013), und er lässt den Leser wissen: Noch ist die Welt in Ordnung.
Nicht lange. Denn der Schriftsteller wechselt bald die Szenerie und präsentiert die Hauptfigur in knappen Sätzen: den 16-jährigen José Claude Ledermann, Schose genannt. «Die Turnschuhe, die er sich wünscht, hat er nicht erhalten. Ein Halbrenner ist gekauft worden, Cycles Wolf. Er hat kleine Räder; Gummi ist rar. Er hat vier Gänge und einen Gepäckträger.»
Ordnung und Disziplin
Der Halbrenner wird Schoses Leben verändern. Der Gymnasiast verunfallt damit, liegt pflegebedürftig im Bett. Sein Velo ist noch intakt, ein Kollege benutzt und verhökert es. Schose nimmt dies nicht wehrlos hin, er greift zum Messer. Die Abrechnung endet für den Kollegen tödlich und für Schose in der Schwererziehbaren-Anstalt Brandmoos. Dort soll er zur Gesellschaftstauglichkeit erzogen werden.
Es ist kein Schleck, das Leben hinter den Mauern. Der Verwalter: «Er verlangt Ordnung und Disziplin… Die Betten werden vor dem Morgenessen gemacht, Leintuch straff gespannt, Wolldecke kürzer genommen, Oberleintuch im oberen Viertel umgeschlagen, Kissen geschüttelt.» Doch Schose macht seinen Weg, nicht nur in der Anstalt, auch später in den Diensten des Bewährungshelfers Hügli oder als Angestellter des Arbeitsamtes. Er hat gelernt, sich zu arrangieren. So ist das Leben.
Steiners Schreibe geht unter die Haut. In kurzen kargen Sätzen beschreibt der Bieler Schriftsteller scheinbar Beiläufiges höchst präzise, protokolliert den Alltag. Und stellt damit eine bedrückende Atmosphäre her, die von Unterdrückung zeugt in jenen Kriegs- und Nachkriegsjahren 1943 bis 1950. Keine Zeit für Gefühle, es gibt viel zu tun.
«Auf Jörg Steiners durchsichtige, rätselhafte, einfache und komplexe Prosa muss man sich einlassen», schrieb der Schweizer Journalist und Dramaturg Peter Rüedi im Nachruf des im Januar 2013 verstorbenen Autors. «Jeder seiner Sätze wirft nicht nur, wie jeder gute Satz einen Schatten, sondern gleich mehrere.» Das triffts genau.
Steiner wurde 1930 in Biel geboren, wo er nach einigen Auslandsaufenthalten – in Mittel- und Osteuropa, Amerika und Afrika – bis zu seinem Tod lebte. Sein Vater war Tiefbaubeamter, er selber machte nach einer abgebrochenen Drogistenlehre das Lehrerseminar.
Die Not der anderen
1953 wurde er als Pädagoge im Erziehungsheim Aarwangen angestellt, ein Ort, der ihn nachhaltig inspirierte. Steiners Romane «Strafarbeit» (1962), «Ein Messer für den ehrlichen Finder» (1966) und «Das Netz zerreissen» (1982) haben alle die fiktive Erziehungsanstalt Brandmoos zum Hintergrund.
«Mir gingen die Augen erst auf, als ich die Not der anderen entdeckte, die Not der in eine fast totale Beziehungslosigkeit Verstossenen, der Abgeschobenen, der Ungeliebten und Vergessenen», so eine der seltenen Äusserungen Steiners zu sich selbst, wie es im Nachwort des neu aufgelegten Romans heisst. Gefangenschaft, Freiheit und der Traum vom Aufbruch blieben zentrale Themen in Steiners Leben und Werk, das rund 30 Bücher umfasst. Steiner galt als einer der ersten der jungen Schweizer Generation nach Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt.
Jörg Steiner
«Ein Messer für den ehrlichen Finder»
224 Seiten
Erstausgabe: 1966
Neu aufgelegt bei Rotpunktverlag 2014.